Seti war verheiratet mit Tuja. Henut-taui mochte ihre Schwägerin nicht. Als Seti sie geheiratet hatte, war Henut-taui noch ein Kind gewesen. Tuja hatte sich damals schon wie eine Prinzessin gefühlt, obwohl zu jener Zeit noch niemand daran gedacht hatte, dass ihr Schwiegervater Pharao werden könnte. Auf ihre kleine Schwägerin hatte sie beinahe verächtlich herabgeschaut. Und auch jetzt noch behandelte sie sie wie ein Kind, das noch der Erziehung bedurfte.
Auch ihre beiden Knaben, Meriamun und Ramses, behütete sie wie Kostbarkeiten, die man schützen musste. Wie gerne hätte Henut-taui manchmal die Kleinen auf ihren Schoß genommen oder mit ihnen gespielt. Tuja ließ dies nicht zu, auch jetzt nicht, da sie doch eine vernünftige junge Frau geworden war. Eigentlich hatte sie sich damit jetzt abgefunden. Die beiden Bengel waren ohnehin aus dem Säuglingsalter herausgewachsen, in dem sie am herzigsten waren. Doch die frostigen Gefühle zwischen den beiden Frauen waren geblieben. Ja, seit Tuja wusste, dass sie einmal die Große Königsgemahlin sein würde, hatte sich ihr Hochmut gegenüber Henut-taui nur noch verstärkt.
Zum Glück vertrug sich Henut-taui gut mit ihren Dienerinnen, die zugleich ihre Gespielinnen waren, vor allem die fröhliche May, die ihr eine liebe Freundin geworden war.
Wie nun Henut-taui an diesem viel versprechenden Morgen die Wand mit den Papyruspflanzen und den Enten und Vögeln betrachtete, kam sie die Lust an, baden zu gehen. Sie erhob sich und rief nach May.
„Du bist schon auf?“, fragte May. „Was hast du vor?“
„Lass uns baden gehen, noch vor dem Frühstück“, antwortete Henut-taui. „Es ist ein so schöner, frischer Morgen.“
May half der Prinzessin beim Ankleiden und kämmte ihr die Haare. Schminken wollte sie sich erst später.
Als sie fertig waren, stürmten sie hinaus.
Vor dem Palast dehnte sich ein weiter Park mit Sykomoren, Akazien und Palmen. Dahinter begann Grasland bis zu einer kleinen Bucht. Barfuß rannten sie zum Sandstrand.
„Fang mich!“, rief Henut-taui.
May folgte ihr und versuchte, sie zu erwischen. Doch die Prinzessin war schnell oder wich ihr plötzlich zur Seite aus, wenn May ihr nahe kam.
Sie lachten, und als sie ans Wasser kamen, blieb Henut-taui stehen und schloss May in die Arme und ließ sie nicht los, bis sie wieder Atem geschöpft hatten.
Auf der Seite, wo sie nun standen und sich ihrer Kleider entledigten, war das Wasser seicht. Langsam setzten sie Fuß vor Fuß in das Wasser. Sie spürten den weichen, feinen Sand unter ihren Sohlen. Bald wagten sie sich weiter hinein. Das Wasser umspielte ihre Knie, ihre Schenkel, bald darauf den Bauch und die Brüste. Sie lachten und spritzten sich gegenseitig an. Dann schwammen sie ein Stück um die Wette.
Hier waren sie ungestört. Der kleine Sandstrand gehörte zum Palast. Niemand hatte sonst Zutritt. Auf der anderen Seite der kleinen Bucht schützte sie ein Schilfgürtel vor zudringlichen Blicken.
Auf einmal hörten sie ein Schreien, wie von einem kleinen Kind.
„Was ist das?“, fragte Henut-taui. „Hast du das auch gehört.“
„Ja, das kommt von dort drüben hinter dem Schilf“, antwortete May.
„Schau doch einmal nach, ob da jemand ist, der uns beobachtet. Vielleicht ist es eine Familie mit kleinen Kindern.“
May schwamm hinüber und stieg dort, wo das Schilf aufhörte an Land. Henut-taui sah sie hinter dem hohen Schilf verschwinden.
Aber May sah niemand. Doch da hörte sie wieder das Schreien.
Unterdessen hatte auch Mirjam nicht nur das Lachen der jungen Frauen, sondern nach einiger Zeit auch das Schreien ihres Brüderchens gehört und war aufmerksam geworden, ob wohl jemand kommen würde. Nun sah sie ein nacktes Mädchen daherkommen. Es musste aus dem Wasser gestiegen sein, denn das Wasser tropfte noch von ihrer Haut.
May begann in die Richtung zu schauen, woher das Weinen kam. Doch sie konnte nichts sehen. Behutsam ging sie ins Wasser und teilte die Schilfrohre auseinander.
Diesen Augenblick wollte Mirjam benutzen, um ihr Versteck zu verlassen und nach Hause zu eilen. Aber sie fürchtete, ertappt zu werden, wenn das Mädchen wieder aus dem Schilf hervorkäme. Sie ging deshalb rückwärts, so dass sie immer die Stelle im Blick hatte, wo May verschwunden war. Sobald sie auftauchte, ging Mirjam auf sie zu, als ob sie von weit her komme.
May hatte das Kästchen entdeckt und trug es ans Land. Mirjam trat wie zufällig herbei.
May hatte bereits den Deckel von dem Kästchen weggenommen und es vor sich ins Gras gelegt. Das Kind wimmerte immer noch. Als Mirjam neben May niederkniete, schaute May auf und sah das Mädchen an, das eine Hebräerin zu sein schien.
Mirjam gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
„Hast du das Kind hier ausgesetzt?“, fragte May. „Ist es dein Kind?“
„Oh, nein“, antwortete Mirjam, „ich bin ja selber noch ein Kind.“
„Bist du schon lange hier?“, fragte May weiter.
„Nein, ich bin eben gekommen“, log Mirjam.
„Dann hast du niemand gesehen, der dieses Kind in dem Kästchen ins Wasser gelegt hat?“
Mirjam schüttelte nur den Kopf. Ihr Herz klopfte heftig. Hoffentlich merkte die junge Frau nichts von ihrer Angst.
„Das muss ein neugeborenes Kind sein. Es ist noch so klein. Sieh nur die kleinen Fingerchen“, sagte May zu der jungen Hebräerin.
Mirjam kamen beinahe die Tränen, als sie ihr Brüderchen anschaute, das vom Schreien im Gesicht ganz rot geworden war. Am liebsten hätte sie es der jungen Frau wieder weggenommen. Aber sie wusste, das wäre der Tod für ihren Bruder und vielleicht auch für sie und für Vater und Mutter und Aaron.
„Komm mit mir“, sagte May. „Ich bringe das Kind der Prinzessin.“
Eigentlich wusste sie selber nicht, weshalb sie dieses fremde Mädchen zum Mitgehen aufforderte. Aber vielleicht war es besser so. Sie wusste ja nicht, was Henut-taui mit dem Kind vorhatte. Wenn sie nichts mit ihm anzufangen wusste, war wenigstens jemand da, dem sie es mitgeben konnte.
May hob das Kind aus dem Kästchen und nahm es auf den Arm. So schritten sie dem Ufer entlang um die Bucht herum.
Als Mirjam hörte, dass sie zur Prinzessin mitgehen sollte, fuhr ihr doch ein kleiner Schreck in die Glieder. War das die Dienerin der Königstochter? Was würde nun mit ihrem kleinen Bruder geschehen? Halb fürchtete sie, der Pharao könnte doch erkennen, dass das Kind hebräischer Herkunft war, halb freute es sie, dass ihr Bruder vielleicht bei der Prinzessin und ihrer Familie aufwachsen könnte. Wenn nur alles gut ginge. Dann würde er sicher ein schönes Leben haben.
Die Prinzessin, als sie sah, dass May mit einem fremden Mädchen zurückkehrte, schlüpfte rasch in ihr Kleid und ging den beiden entgegen.
„Sieh, was ich gefunden habe!“, rief May schon von weitem. „Ein neugeborenes Kind.“
Henut-taui beugte sich über den Arm ihrer Gespielin, in dem das Kind sich inzwischen beruhigt hatte.
May erzählte, wie sie das Kind gefunden hatte und wie dieses Mädchen dazugekommen war.
„Sie hat gesagt, sie habe niemand gesehen.“
„Niemand, dem es gehören könnte?“, fragte Henut-taui.
Mirjam schüttelte wieder den Kopf. Sie brachte kein Wort hervor.
„Dann will ich es behalten. Es ist ein schönes Kind. Ich liebe kleine Kinder.“
„Ist es ein Mädchen oder ein Knabe?“, fragte May.
Beinahe hätte sich Mirjam verraten. Die Antwort wollte ihr schon über die Zunge hüpfen.
Aber sie konnte sich zurückhalten. Die Frage war ja gar nicht an sie gerichtet.
Die Prinzessin hatte das Kind May vom Arm genommen und es auf den sandigen Boden gelegt. Sie wickelte es aus den Tüchern und rief: „Schaut, es ist ein Knabe. Wir müssen ihm einen Namen geben. Was meint ihr, wie soll er heißen?“
Bevor die beiden anderen einen Namen nennen konnten, rief sie: „Ich weiß, ich werde ihn einfach Moses, Sohn, nennen. Er ist ja jetzt mein Kind.“
Читать дальше