Martin Renold
Ein Mann zwei Leben
Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Martin Renold Ein Mann zwei Leben Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen Dieses ebook wurde erstellt bei
Der Unfall
Angelika
Karin
Illusionen
Meine erste Begegnung mit Christian
1822 – Traum oder Wirklichkeit?
Stephanie
Im Gasthaus „Zum Goldenen Schäfle“
Wiedergeburt – ja oder nein?
Heinrichs erstes Abenteuer
Christian, Angelika und die Graphologie
Sternstunden – Traum und Wirklichkeit
Silvia
Drei ungleiche Hochzeiten
Bin ich ein Mörder?
Käthe
Ein schrecklicher Sonntag
Verstand und Gefühl
Impressum neobooks
Martin Renold
Ein Mann
zwei Leben
Das seltsame Leben
des Manfred Keilhofer
in St. Gallen
Seit dem fürchterlichen Unfall im Frühsommer hat sich mein Leben radikal verändert. Nicht nur weil ich Karin verloren habe. Unsere Ehe fand damals ein abruptes Ende. Nach dreiundzwanzig nicht nur himmelblauen Jahren. Oft waren sie von dräuenden Wolken verhangen, oft hatten sich dunkle Gewitter entladen, grelle Blitze und krachende Donner hatten uns erschreckt. Ab und zu verwüsteten Hagelkörner die zarten Blüten unseres Gärtchens, das wir uns bepflanzt hatten, ohne es genügend sorgfältig zu hegen. Wir seien gar nicht richtig verheiratet, warf mir Karin manchmal während eines solchen Unwetters vor.
Was heißt: richtig verheiratet? Wer kann das schon von sich und seiner Ehe behaupten, vom Tag der Trauung an „bis dass der Tod euch scheidet“? Ununterbrochen, Tag für Tag. Es gibt doch in jeder Ehe Zeiten, in denen man sich fremd vorkommt, einander nicht mehr zu verstehen glaubt, wo man sich fragt, ob man sich überhaupt noch liebt, ob die Ehe, die man führt, tatsächlich das ist, was man sich von ihr und seinem Partner einmal versprochen hat.
Zugegeben, solche Zeiten des Zweifels und des klimatischen Tiefs kamen in unserer Ehe vielleicht häufiger vor oder dauerten länger als in manch anderer Ehe.
„Warum lassen wir uns denn nicht scheiden?“, schrie ich Karin vier Wochen vor dem Unfall an, als sie mir im Streit schwere Vorwürfe an den Kopf schleuderte und wieder einmal den Wert unserer Ehe bezweifelte.
„Ja, warum eigentlich nicht?“ entgegnete sie. „Du brauchst es mir nur zu sagen, wenn es dir ernst ist.“
Es war mir ernster, als ich zugeben wollte. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken und mit ihr noch länger zu streiten. Ich stieß den Frühstücksteller unwirsch von mir weg. Den Stuhl hätten meine im Aufschießen zurückschnellenden Kniekehlen umgeworfen, wäre er nicht an die Wand geprallt. Ich schlüpfte in meine Jacke und verließ das Haus.
Hedwig folgte mir hastig. Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Ich, immer noch erregt und unzufrieden mit mir selbst und meiner Umgebung, beachtete sie kaum.
„Ihr solltet euch wirklich scheiden lassen“, machte sie sich endlich bemerkbar. „Auf uns Kinder braucht ihr ja keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wir sind alt genug.“
Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich meinte, was sie sagte, oder ob sie mich damit nur zum Nachdenken zwingen wollte. In jenem Augenblick nahm ich es für bare Münze.
„Ja, ja, aber das ist nicht so einfach“, antwortete ich ihr. „Martins Studium kostet noch eine Menge Geld. Eine Scheidung brächte viele Probleme, finanzielle und andere.“
Unsere Wege trennten sich bei der Bushaltestelle.
Ich hatte Hedwig nachgeschaut, bis ich ihren blonden Haarschopf nicht mehr sehen konnte. Durfte ich es ihr und ihrem Bruder antun? Eigentlich hatte sie ja recht. Sie waren jetzt erwachsen. Hatten Karin und ich doch nur wegen der Kinder an unserer Ehe festgehalten. Inge, unsere ältere Tochter lebte ohnehin nicht mehr bei uns. Sie ist verheiratet. Und Martin und Hedwig sind jetzt auch in einem Alter, in dem sie eine Scheidung ihrer Eltern verstehen könnten und nicht mehr darunter leiden würden.
So in Gedanken versunken, hätte ich beinahe den Bus verpasst. Im letzten Moment hatte ich gesehen, dass die Menschen, die mit mir auf den Bus gewartet hatten, schon eingestiegen waren. In dem Moment, als ich einstieg, schlossen sich die Türen. Da der Bus bereits voll war, blieb ich in der Nähe der Tür stehen.
Mein Ärger, der sich unterwegs ein wenige gelegt hatte, stieg wieder an. Warum nur war ich so unbeherrscht gewesen? Das entsprach überhaupt nicht meinem Charakter. Karins Aggressivität trieb mich immer wieder zu solchen Reaktionen. Sie drehte mir oft die Worte im Mund herum, wollte mich nicht verstehen, witterte hinter allem, was ich sagte, irgendwelche undurchschaubaren Absichten. Im Grunde bin ich ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Meine Bekannten glauben, ich stünde in jeder Situation über der Sache. Warum zwang mich Karin immer wieder, anders zu sein, nicht so zu sein, wie ich meiner innersten Natur entsprechend sein möchte? Jede meiner Ungezügeltheiten empfand ich als einen Schritt zurück auf dem Weg meines Lebens, der doch stets weiter vorwärts und höher, zu Abgeklärtheit und innerem Frieden führen sollte.
Ich schämte mich vor mir selber. Ich machte Karin dafür verantwortlich. War ich ihr deshalb böse und gleichgültig ihr gegenüber, so dass sie es manchmal wirklich fast nicht mehr aushielt mit mir, obwohl sie mich liebte? Ich muss zugeben, dass ihre Liebe grösser und beständiger war als meine.
Hätte ich gewusst, was vier Wochen später geschah, ich hätte mich wohl beherrscht. Doch nun war es zu spät. Es ging mir wie vielen, die nach dem Tod eines Angehörigen bereuen, etwas Gutes und der Liebe Förderliches versäumt oder etwas getan zu haben, das die Harmonie zerstörte. Doch wer kann schon so leben, dass bei einem plötzlichen Tod nicht etwas zurückbleibt, das man vorher noch gerne aus der Welt geschafft hätte.
Karins Tod ist mir nahegegangen. Wenn man dreiundzwanzig Jahre miteinander lebt, verbindet einen vieles. Und wenn ich es recht bedenke, kamen wir trotz allem noch ordentlich gut miteinander aus, vor allem die ersten paar Jahre, bis Angelika in mein Leben trat. An Karins monatliche Zornausbrüche, die offenbar mit ihren „Tagen“ zusammenhingen, für die sie jedes Mal auch von mir meine volle Aufmerksamkeit forderte, hatte ich mich gewöhnt. Ich will ihr das auch nicht ankreiden. Welcher Mann weiß schon, was für Prozesse in der Biologie einer Frau sich in den Phasen des Mondes abspielen? Später, als sie erfuhr, dass ich Angelika liebte, wurde es schlimmer. Da konnte ich ihre Ausbrüche nicht mehr mit dem Kalender berechnen und vorhersehen. Doch als sie dann innerlich mehr Distanz zu mir genommen hatte und selbst auch außerhalb unserer Ehe Erfüllung ihrer Liebe fand, wurden die Stürme seltener. Die Erschütterungen waren nur noch leichtere Nachbeben.
In den Trennungsschmerz, den ich bei ihrem Tod empfand, mischte sich Mitleid. Sie musste zwar nicht leiden. Sie war sofort tot. Aber sie war nicht vorbereitet. Sie war noch jung, hing noch sehr an ihrem Leben. Sie erwartete noch viel von der Zukunft. Auch ich. Trotzdem glaube ich, hätte ich den Tod leichter annehmen können als sie. Es hätte ja auch mich treffen können. Wir saßen im gleichen Auto. Ich hätte ihr die Freiheit von mir und ein neues Leben gegönnt.
Ich erinnere mich, dass Karin mir ziemlich am Anfang unserer Ehe einmal sagte, es wäre ihr lieber, ich wäre tot, als dass sie mich an eine andere Frau verlöre. Ich konnte das nicht verstehen. Wie kann man einen Menschen, den man liebt, lieber tot sehen als glücklich mit jemanden, den er liebt? Ich sagte ihr, ich würde sie lieber einem anderen Mann überlassen. Ich sähe sie lieber in den Armen eines andern als tot in einem Sarg. Das nun konnte Karin nicht verstehen. Sie zweifelte an meiner Liebe. Ich dürfe ja nicht nur an mich und meinen Schmerz denken, erwiderte ich. Wahre Liebe wolle doch das Glück des andern.
Читать дальше