Martin Renold
Die Zeit des Zweiten Weltkriegs
erlebt von einem jugendlichen Schweizer
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Martin Renold Die Zeit des Zweiten Weltkriegs erlebt von einem jugendlichen Schweizer Dieses ebook wurde erstellt bei
Auf meiner Bettkante sitzend
Das Geheimnis der vier Oktavhefte
Das Haus Nummer dreizehn
Das Klassentreffen
Aus meiner Chronik
Der Vater
Die Mutter
Ein Kulturvolk protestiert
Finsternis – und kein Ende
Auschwitz? Nichts als Lüge
Ein weiterer Fund
Zwischen den Parteien
Frankfurt
Dem Ende entgegen
Ein neuer Anfang?
Die Zeit nach Hiroshima
Impressum neobooks
Auf meiner Bettkante sitzend
Neujahr 1989. Noch nichts vom Mauerfall. Nichts von deutscher Wiedervereinigung. Nichts von „wer hätte das noch vor einem Monat gedacht?“
Neujahr 1989. Jahresanfang. Anfang? In der Rundschau von Bayern 3 hinter dem Nachrichtensprecher auf der Karte noch immer die gestrichelten Grenzen des Deutschen Reiches von 1937. Ostpreußen. Pommern. Schlesien. Jenseits von Oder und Neiße. Alte Heimat. Die bösen Polen. Tag für Tag. Um 17 Uhr. Um 18 Uhr 45 schon wieder. Um 21, um 23 Uhr und ein letztes Mal nach Mitternacht.
1989. Helmut Kohl will immer noch nicht. Die Heimatvertriebenen. Als hätte es keinen Krieg gegeben. Keinen Führer. Kein „Heil Hitler!“ Kein „Sieg Heil!“ Kein „Führer befiehl, wir folgen dir!“. Kein „Wollt ihr den totalen Krieg? Ja, wir wollen den totalen Krieg!“
Ich sitze auf meiner Bettkante. Ich, Martin Pfändler. Damals bekamen wir noch diese einfachen Namen: Paul, Emil, Joseph, sogar Adolf. Die Eltern unserer Generation konnten sich noch einen Adolf leisten. Zwei, drei Jahre später verschwanden sie aus den schweizerischen Taufregistern. Die meisten Adolfe ließen sich Dölf rufen.
Vor mir auf dem Boden liegt ein Berg von Büchern, Broschüren, Ordnern. Ein wildes Durcheinander. Ich habe die Möbel meines Zimmers umgestellt. Der Bücherschrank war zu schwer. Ich habe ihn an die Wand gegenüber geschoben. Auf den oberen Tablaren stehen die Bücher schon wieder in Reih und Glied. Auf dem Boden liegt noch der Inhalt des unteren, abgeschlossenen Sockelteils.
Alter Kram. Stiefmütterlich behandeltes Gut. Doch jetzt sollte mal richtig Ordnung geschaffen werden. Unnützes in die Altpapiersammlung. Was der strengen Prüfung standhält, kann weiter gelagert werden.
Ein Ordner, Korrespondenz, mindestens zwanzig Jahre alt, findet keine Gnade. Weg damit.
Manuskripte, vor Jahren geschrieben, zwei-, dreimal kopiert, aber nie veröffentlicht, kommen auf das obere Tablar, ganz links außen.
Vor mir liegt eine Illustrierte. Ich blättere. Farbige Aufnahmen von den ersten Menschen auf dem Mond. Ein kurzes Zögern. – Doch: Das ist ein Zeitdokument. Vielleicht werden meine Nachkommen einmal danach greifen. Mein Sohn. Nach meinem Tod. Wird darin blättern. Wird es ein Leben lang aufbewahren. Für seinen Sohn. Auch die zwei Nummern von „Sphere“ und die „Illustrated London News“ aus der Kriegszeit mit den gemalten Seeschlachten unter schwarzem, blitzezuckendem Himmel und den Luftaufnahmen ausgebombter deutscher Städte, die aussehen wie schwarze Setzkästen, in denen früher die Setzer in den Buchdruckereien die bleiernen Lettern aufbewahrten.
Und dann sind da einige dünne, vergilbte Broschüren. Ach ja, die habe ich nach dem Tod meiner Mutter beim Räumen ihrer Wohnung an mich genommen. Stockfleckig liegen sie in meiner Hand. Mein Vater, Otto Pfändler, überzeugter Sozialdemokrat, elf Jahre vor meiner Mutter gestorben, hat sie seinerzeit gekauft. Als sie noch nicht stockfleckig waren. Als noch Explosivkraft in ihnen steckte.
Der modrige Duft des Papiers erinnert mich an die Zeit meiner Jugend in St. Gallen. Die Buchhandlung in der Schmiedgasse, wo ich als kleiner Angestellter im Keller nach alten Ladenhütern geschmökert habe. Immerhin fand ich einige Kostbarkeiten. Eine Dünndruckausgabe von Gustav Freytags „Soll und Haben“ für RM 2,40. Und Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“, das ich später der Altpapiersammlung mitgab, weil es meiner Frau in die Hände geraten war und ihr Selbstbewusstsein erschüttert hatte. Frauen hätten keine Seele, behauptete er, und die Juden, die er den Frauen gleichsetzte, demzufolge auch nicht. Meine Frau, sie ließ sich später von mir scheiden, war beeindruckt. Vielleicht hatte er recht. Nicht wegen der Juden. Sie war keine Emanze. Sie empörte sich nicht. Im Grunde hatte ich ihr Selbstwertgefühl zerstört. Ich hatte ihr eine andere Frau vorgezogen. In Weininger fand sie die Begründung. Was half es, dass ich ihr einhämmerte, Weininger sei an seiner falschen Theorie selbst zugrunde gegangen, habe mit einundzwanzig Jahren Selbstmord verübt. Das Gegenteil war der Fall. Wer mit zwanzig Jahren oder früher so was schreibe, sei ein Genie. Und wer keine Seele besitze, könne gleich Schluss machen. Ich musste ihr das Buch wegnehmen. Ich nehme an, heute hat sie Weininger vergessen.
Ich schnuppere gern an alten Sachen. So steigen Erinnerungen auf. Ich schaue auf den Titel: „Wie ist Hitler zur Macht gekommen?“ Eine Flugschrift, herausgegeben in Zürich, datiert vom Juli 1933. Auf der letzten Seite ein Zwischentitel: „Die große Gefahr“: Was wird nun weiter in Deutschland geschehen? Werden dem Volke bald die Augen aufgehen? Dies scheint wenig wahrscheinlich. Die Hitler-Regierung wird… jede Opposition im Keime rücksichtslos unterdrücken und noch lange auf ihrer Seite geborene Untertanen haben, die in Deutschland vorläufig noch sehr zahlreich sind … hat sie durch den Judenboykott viel Porzellan zerschlagen … Was den inneren Frieden betrifft, so kann es sich hier nur um die Ruhe des Friedhofs handeln. Was aber den äußeren Frieden angeht, so wäre es ein Wunder, wenn das Dritte Rich ihn lange genießen könnte.“
Das zweite Heft trägt mit roten Lettern den Titel: „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter“. Erschienen am 19. Februar 1934 in Prag. Wie ich darin blättere, fällt ein kleiner Zettel heraus. Ein Lieferschein der Fabrik „Rätia“ A.-G. Chur. „Diplom 1. Klasse – Goldene Medaille“ steht in kleinen, geschwungenen Lettern unter dem Firmennamen. Die verblasste Handschrift kann ich nur mit Mühe lesen. 27.2.1934. Darunter die Anschrift meines Vaters. Otto Pfändler, Scheidwegstraße 13. St. Gallen.
Und dann die gelieferte Ware: 3 kg Stachelbeer. Nein, Stachelbeeren im Februar? Das kann wohl nicht sein. Ich trete ans Fenster. Jetzt kann ich es entziffern. Ich schließe die Augen und sehe auf einmal einen Kessel vor mir mit einem zähen, schwarzen Inhalt. „Natürlich: Wacholder. „Wacholderlatwerge“ oder, wie meine Patin sagte, „Räckholderlattwäri“. Eingedickter, gezuckerter Wacholdersaft.
Ich schaue hinaus und weiß nicht, träume ich oder bin ich wach. Mein Blick geht zu den Jurabergen. Sie sind von starkem Raureif bedeckt. Geschneit hat es nicht. Weihnachten war wieder einmal grün. Der Schnee lässt noch auf sich warten.
Mein Blick geht weiter als bis zur Wasser- und zur Gislifluh. Die Hügel dort hinten sind der Kaien und die Eggersrieter Höhe. Ich stehe im Haus in St. Gallen an der Scheidwegstraße 13. Baujahr 1904. Diese Zahl stand in dem dreieckigen Mauergiebel gerade unter den beiden Stubenfenstern unserer Wohnung im zweiten Stock. Ob der wohl noch dort steht, nachdem der neue Besitzer das Haus renoviert hat? Damals hat die Mutter, keine zwei Monate nach Vaters Tod, die Kündigung bekommen. Am 24. Dezember, am Heiligabend, lag sie in ihrem Briefkasten. Frohe Weihnachten. Es war der Nachbarssohn, den sie schon als Schuljungen gekannt hatte. Jetzt führte er den Betrieb seines Vaters. Seine Mutter hatte uns voller Stolz erzählt, dass ihre Firma das neue Kirchturmdach der katholischen Kirche in St. Georgen errichtet habe.
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