Martin Renold
Angelo
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Inhaltsverzeichnis
Titel Martin Renold Angelo Dieses ebook wurde erstellt bei
ERSTER TEIL ERSTER TEIL
Im Waisenhaus
Die Flucht
Endlich in Freiheit
Die Höhle
Wer kann besser zählen?
Angelo hat einen neuen Freund.
Mario weiß, wie man zu Geld kommt.
Angelo lernt lesen.
Kommt der Frühling bald?
Eine Mutter
Im Petersdom
Ein arbeitsfreier Tag
Der Papst, der liebe Gott und die Polizei
Was geschah mit Lorenzo?
Das Mädchen auf der Spanischen Treppe
Was Angelo in der Kirche des heiligen Paulus erlebt.
Das seidene Tuch
Angelo begegnet dem lieben Gott.
Angelo ist krank.
Mario holt Hilfe.
ZWEITER TEIL
Im Spital
Endlich daheim
Angelo gerät in Bedrängnis.
Angelo, das Meer und die Feinde
Bei Giuseppe daheim
Mario und Lorenzo besuchen Angelo und seine Freunde.
Angelo geht zur Schule.
Angelo geht zum lieben Gott.
Filippo und seine Mäuschen
Ein seltenes Weihnachtsgeschenk
Viele neue Freunde
Rico Vitale, der Opernsänger
Filippos Geige
Angelo ist erwachsen.
Impressum neobooks
Wer ihm diesen Namen gegeben hatte, und warum er so hieß, wusste er nicht. Aber er kümmerte sich nicht darum, fragte nicht danach. Solange er sich erinnerte, hatten ihn seine Kameraden so genannt, und er war stolz darauf; denn Angelo war der schönste Name, den er sich denken konnte.
Aber es gab noch vieles, das der kleine Angelo nicht wusste, vieles, was andere Kinder in diesem Alter sonst wissen, ausgenommen seine Kameraden, die mit ihm aufwuchsen. So wusste Angelo nicht, wer sein Vater und auch nicht, wer seine Mutter war. Er hatte beide nicht gekannt. Ja nicht genug: Seinem kindlichen Verstand war es lange gar nicht bewusst gewesen, dass Kinder wie er sonst eine Mutter und einen Vater haben. Doch auch später, als er davon wusste, glaubte er, es sei ein besonderes Vorrecht, oder vielleicht auch ein Nachteil, Vater und Mutter zu haben, ein Vorrecht, das manche Kinder besitzen und manche, wie er und seine Kameraden, nicht. Vielleicht aber, und das war gewiss nicht ausgeschlossen, würde auch er einmal einen Vater und eine Mutter bekommen. Seine dunklen Augen konnten strahlen, sie waren voller Liebe, wenn er so dachte. Und sein Mund konnte sich zu einem schelmischen Lächeln verziehen, wenn er so siegesbewusst auf die Erfüllung seiner heimlichen Sehnsucht hoffte.
Ja, Angelo hatte entbehren müssen, was gewöhnlichen Kindern sonst zur nächsten Umgebung gehört, sind doch das liebevoll lächelnde Gesicht der Mutter und das glücklich freundliche Antlitz des Vaters den Augen eines Kindes das Vertrauteste von der Zeit an, da sie als Formen erkennen, was ihnen zuvor ein buntes Gewirr von Licht und Farben war. Angelo wusste nichts davon. Die ganze Vergangenheit seiner kleinen, aber doch so wichtigen Person war gleich schwarz und undurchsichtig wie die dunkle Nacht. Und wer hätte sie ihm erhellen können? Es wusste ja niemand mehr über ihn als er selber. Ist es da verwunderlich, dass ihm der Ort, wo er zur Welt kam, unbekannt war? Wahrscheinlich war dieser Ort irgendwo in einem schmutzigen Haus in der engen, übel riechenden Gasse der sonst so glanzvollen Stadt Rom, die sich die Ewige nennt. Noch weniger verwunderlich ist es unter diesen Umständen, dass er auch darüber keine Auskunft zu geben wusste, wie lange er schon auf dieser Erde weilte, von der er sich gar keinen Begriff machen konnte. Ihm war, als sei er schon immer hier gewesen. Und dass man einmal geboren wird, irgendwo in einem schmutzigen Haus in einer übel riechenden Gasse, war eine Tatsache, die es in seinem Bewusstsein nicht gab. Es interessierte ihn auch nicht im Geringsten, wie alt er in Wirklichkeit war; denn die meisten seiner Kameraden waren über ihr Alter gleich unwissend wie er. Und darum schwieg man darüber. Und wenn ihn doch einmal jemand fragte, so sagte er einfach, er sei gleich alt wie Lorenzo, und der behauptete wenigstens, er sei sieben Jahre alt. Angelo sagte dies, weil er gleich groß war wie Lorenzo. Also musste er doch auch gleich alt sein. Manchmal hatte es Streit gegeben, wenn ein Kamerad ihm nicht hatte glauben wollen. Aber diese Zwiste waren immer bald vergessen. Oft hatte Mario geschlichtet. Aber die Streitfrage hatte auch er nicht lösen können. Die konnte überhaupt niemand lösen.
Dies war nun schon lange her, als Angelo noch nicht sein eigener Herr und Meister war. Jetzt fragte ihn niemand mehr nach seinem Alter und seiner Herkunft. Die spielen keine Rolle mehr, wenn man eine eigene Wohnung hat, und eine solche hatte er jetzt. Allerdings nicht allein, sondern zusammen mit Mario und Lorenzo. Jetzt sorgte er für sein Leben allein. Manchmal schon auch zusammen mit Mario und Lorenzo. Oft aber doch meistens ganz allein.
Aber was war nicht immer so gewesen.
Angelo erinnerte sich nicht mehr an jene Zeit, da er erst mit seinem schwachen, zarten Körper in dieser harten, unbarmherzigen Welt gelebt hatte, seine Seele aber noch in der anderen Welt, aus der wir alle herkommen, zu weilen schien. Aber an die Zeit, die jener folgte, konnte er zurückdenken. Wenn er dies tat, ungern zwar, dann sah er sich im Kreis von ein paar Dutzend Kindern. Viele waren gleich groß wie er, andere waren älter, schon große Knaben, die Angelo mit Achtung und Bewunderung betrachtete; denn sie kannten viele Dinge, die er damals noch nie gesehen hatte. Sie waren schon oft in der Stadt gewesen, manchmal im Geheimen, und sie erzählten den Jüngeren davon mit leuchtenden Augen. Angelo hätte auch gar so gerne einmal den Petersdom aus der Nähe gesehen und die vielen andern schönen Sachen, die es in der Stadt zu bewundern gab. Mario erzählte ihm oft davon, und Angelo war stolz, dass er zu den Bevorzugten gehörte, die ihm zuhören durften. Viele der Kinder waren aber noch kleiner als Angelo. Manche konnten noch gar nicht gehen und schrien den ganzen Tag hindurch und oft auch in der Nacht.
Da waren auch zwei alte Frauen, immer schwarz gekleidet mit langen, faltigen Röcken. Sie hatten strenge Gesichter, und beide trugen Brillen mit runden Gläsern vor ihren Augen. Angelo fürchtete sich vor ihnen. Auch die andern Knaben und Mädchen hatten Angst; denn es gab viel Schläge und wenig Essen. Manchmal, wenn sie nicht gehorsam waren, wurden sie mit dem Stock bestraft, und dann mussten sie obendrein erst noch ohne Nachtessen ins Bett. Dabei hatten sie doch schon den ganzen Tag gehungert. Ihr bloßer Aufenthalt in diesem Haus wäre schon Strafe genug gewesen. Dies glaubten wenigstens Einige von ihnen.
Außer den beiden Frauen war auch noch ein lieber Gott da. Doch Angelo hatte ihn noch nie gesehen. Aber die Kinder mussten immer vor dem Essen den lieben Gott um das Brot bitten und ihm danken für das Wenige, das sie bekamen. Dazu mussten sie immer die Hände falten und ein ernstes Gesicht machen. Keiner durfte dabei lachen.
In einigen Zimmern waren Bilder aufgehängt. Auf vielen war eine Frau zu sehen, die fast immer einen blauen, weiten Mantel trug und in ihren Armen ein Kind hielt. Das war Maria, die Mutter Gottes. Angelo wusste nicht, was das bedeutete. Man hatte ihm nur gesagt, dass das Kind nicht der liebe Gott sei – das hatte er sich auch nie vorgestellt –, sondern das Christkind. Und sein Vater war der liebe Gott. Und die Frau mit dem blauen Mantel war die Mutter des Christkindes und des lieben Gottes. Aber das war viel zu schwer zu verstehen. Wie sollte er, Angelo, dies verstehen, wenn es nicht einmal seine älteren Kameraden verstanden?
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