Plötzlich aber flachte der Boden innerhalb weniger Meter stark ab, doch als Mavis schon die Hoffnung hatte, sie hätten es hinter sich gebracht, tauchte ein großer Felsbrocken vor ihnen auf und alle drei krachten ziemlich rüde dagegen. Tily, Kupus, aber auch er mussten schmerzhaft aufschreien.
Mitten hinein aber ertönte das tiefe Brüllen der Insektenbestie, die hinter ihnen ebenfalls den Abhang hinabrauschte. Immer stärker vibrierte der Boden, während der gewaltige Körper des Monsters den Urwald umpflügte.
Instinktiv sprang Mavis trotz aller Schmerzen auf die Beine, bückte sich sofort wieder und zog sowohl Kupus, als auch Tily in die Höhe, doch dann hielt er inne, weil er sah, dass es hoffnungslos war. Das Monstrum würde sie überrollen oder an dem Felsen zerquetschen. Eine andere Alternative gab es nicht mehr. Ihr Weg war hier und jetzt zu Ende.
Ein Schatten zuckte von rechts heran.
Mavis nahm ihn erst gar nicht wahr. Erst als nur einen Wimpernschlag später ein zweiter Schatten daneben erschien, wurde er aufmerksam.
Vollkommen überrascht erkannte er zwei Personen in dunklen Kleidern. Eine von ihnen, groß und kräftig, stand vor Kupus, die andere, kleiner und schlanker, vor Tily. Sie ergriff das Mädchen um die Taille, zog es an sich, um im nächsten Moment wie von Geisterhand getrieben mit ihr in den Himmel zu schießen. Mavis wollte ihr nachschauen, denn er glaubte eine Art Sicherungsgeschirr an dieser Person entdeckt zu haben, da erschien eine dritte Gestalt direkt neben ihm und versperrte ihm die Sicht. Stattdessen blickte er in das grimmige Gesicht eines Hünen mit stahlblauen Augen und tiefroter Haut. „Festhalten!“ sagte er nur mit dunkler Stimme, dann schlang er abrupt seine Arme um Mavis Oberkörper und noch bevor der richtig begriff, was geschah, schoss auch er zusammen mit dem Hünen blitzschnell in die Höhe.
In den Augenwinkeln konnte er die Bestie erkennen, die nur noch wenige Meter von dem Felsbrocken entfernt war und weiterhin ein irres Tempo draufhatte.
Kupus! Er sah den Jungen mit dem Fremden noch immer am Boden. Himmel, sie mussten da weg, bevor...! Erst in allerletzter Sekunde zuckten ihre Körper in die Höhe und Mavis konnte jetzt ganz deutlich das Geschirr an der fremden Person erkennen, an dem in Hüfthöhe zu beiden Seiten so etwas wie Seile abgingen und nach oben führten.
Im nächsten Moment wurde Mavis flau im Magen, weil ihr Steigflug den Zenit erreicht hatte und sie wieder fielen, während sie sich rückwärts bewegten.
Dann krachte das Monstrum gegen den Felsbrocken und quiekte schmerzhaft auf, doch wirbelten seine Klauen dabei so wild umher, dass eine davon die beiden Seile durchtrennte, die Kupus und die andere Gestalt nach oben beförderten. Wild schreiend sausten sie führerlos durch die Luft und die Gestalt verlor den Jungen aus der Umklammerung. Während sie selbst neben der Bestie auf den weichen Urwaldboden schlug, klatschte Kupus vollkommen hilflos auf den großen Felsbrocken vor ihnen. Sein Schrei verstummte schrecklich abrupt.
„Nein!“ Mavis war tief entsetzt, als er harten Untergrund unter seinen Füßen spüren konnte. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass der Hüne ihn auf einen dicken Ast gute zehn Meter über dem Grund gebracht hatte, auf dem neben Tily und der Gestalt, die sie umklammert hielt und die Mavis jetzt als junge Frau erkannte, noch drei weitere Personen standen und das Geschehen am Boden verfolgten. Die Gestalt, die jetzt auf dem Urwaldboden lag und sich vor Schmerzen windete, hatte sofort die volle Aufmerksamkeit der Insektenkreatur, die gerade dabei war, sich wieder vollkommen aufzurichten.
Mavis glaubte wahnsinnig zu werden, weil doch vollkommen klar war, was gleich passieren würde, scheinbar aber niemand zur Hilfe eilen wollte.
Plötzlich jedoch ertönte ein lauter, schriller Pfiff, der nicht nur seine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern auch die des Monsters. Mavis Augen zuckten wild umher und erkannten mit einem Male eine große Gestalt mitten auf dem großen Felsbrocken. Sie stand aufrecht und starrte auf die Kreatur herab. Sie schien eine Art Gewehr in der Hand zu haben, doch hing der rechte Arm kraftlos an der Seite herab.
Der spinnt, dessen war Mavis sich vollkommen klar, denn der Fels war lange nicht hoch genug, um sicheren Schutz vor der Bestie zu bieten. Das schien die auch zu erkennen, denn sie wandte sich zu dem Mann um, öffnete ihre Klauen ganz weit und stieß ein zorniges Fauchen aus.
Doch während sie das tat, trat ein weiterer Mann neben den Mann auf dem Felsen, schulterte augenblicklich ein Gerät, das Mavis an einen Granatwerfer erinnerte, zielte kurz und drückte sofort ab. Das Projektil zischte aus dem Lauf und jagte direkt in das weit geöffnete Maul der Kreatur.
Die Wirkung war fatal. Fast schien es so, als habe sich das Monster verschluckt, denn es quiekte auf, sein Körper erzitterte und seine Gliedmaßen zuckten wild umher. Es taumelte, driftete nach links, schlug um sich, traf dabei den armen Kerl am Boden, der dadurch den Tod fand, wankte wieder zurück nach rechts und erstarrte plötzlich direkt vor dem Felsen mit einem überraschten Quieken. Einen Augenblick später erzitterte sein ganzer Körper erneut und immer heftiger, bevor es von innen heraus irrsinnig wuchtig explodierte und sich Unmengen an Blut, Innereien und anderen Körperflüssigkeiten torpedogleich in alle Richtungen verteilten.
Alle Personen im näheren Umkreis konnten dem nicht entkommen und auch der Ast, auf dem Mavis sich befand wurde davon betroffen, wobei er mit einer solchen Wucht davon erfasst wurde, dass es ihn beinahe von den Füßen gerissen hätte, wenn ihn der Hüne nicht rechtzeitig gepackt hätte.
Mavis nickte ihm dankbar zu, dann schaute er zurück zu Boden. Das Monstrum war tot, nur noch Teile des Panzers und all seine Gliedmaßen, die gespenstisch gekrümmt in den Himmel ragten, waren intakt, der Rest der Bestie war vollkommen zerfetzt. Dabei fiel Mavis auf, dass er weder Rauch noch Feuer sah, lediglich ein wenig Dampf, hervorgerufen durch die Körperwärme der Innereien. Das Projektil, dass das Untier getötet hatte, konnte also keine herkömmlichen Explosivstoffe enthalten haben. Doch bevor Mavis weiter darüber nachdenken konnte, wurde er überwältigt von dem bestialischen Gestank des Kadavers.
Dann ertönte wieder ein Pfiff und Mavis erkannte, dass der Mann auf dem Felsen in seine Richtung deutete.
„Kommen sie!“ sagte der Hüne und schlug ihm gegen den linken Arm. Dann drehte er sich um und ging auf dem dicken Ast des Baumes bis zum Stamm, wo er in einer großen Öffnung verschwand. Mavis folgte ihm und war erstaunt, als er erkannte, dass der Stamm des Baumes in diesem Bereich komplett ausgehöhlt war, noch mehr aber, als ihm gewahr wurde, wie gewaltig der Stamm war, was ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Mavis schätzte seinen Durchmesser auf mindestens drei Meter. Das dunkle Holz wurde durch einige, kleine Leuchtkristalle in fahles Licht getaucht. An den Außenseiten waren Stufen belassen worden, auf denen Mavis dem Hünen nach unten folgte.
Etwa fünf Meter tiefer gab es eine zweite Öffnung durch die sie auf einen weiteren Ast traten, der aber lange nicht mehr so breit und stark wirkte, wie der erste. Dafür führte er sie direkt auf eine kleine Anhöhe über die sie den Felsbrocken erreichen konnten.
Der Gestank war hier noch erdrückender, doch wurde Mavis Blick sofort von Kupus angezogen. Der Körper des Jungen lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Felsen, seine Gliedmaßen standen in unnatürlichen Winkeln von seinem Rumpf ab und eine große, dunkle Blutlache hatte sich ausgehend von seinem Kopf großflächig ausgebreitet. Mavis verspürte sogleich eine Gänsehaut gepaart mit Schmerz, Trauer und Wut.
„Wer sind sie?“ fragte der Mann, der als Erster auf dem Felsbrock erschienen war. Er hatte Mavis Größe, war sichtbar muskulös, von tiefroter Hautfarbe mit Glatze und stechend grünen Augen. Sein Tonfall war nicht freundlich, aber auch nicht abweisend, eher trauernd.
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