Doch im selben Moment ertönte ein tiefes Brüllen, als die vordere Bestie das Unglück der beiden Kinder erkannte, sofort ihre Richtung änderte, mit unbändiger Wucht durch die Baumreihe donnerte, die die beiden Gänge voneinander trennte, dass das Holz wie explosionsartig in alle Richtungen schoss und direkt auf die beiden Halbwüchsigen zuhielt.
Da war Mavis klar, dass er keine Wahl hatte.
Während er sehen konnte, wie das zweite Monstrum unverändert hinter ihm und seinen Freunden her war, sprang er mit einer blitzschnellen Bewegung durch das Dickicht in den anderen Gang, wo er für einen Sekundenbruchteil verharrte. Rechts von sich sah er den älteren Jungen, der scheinbar ebenfalls zu Hilfe eilen wollte, jetzt aber wieder in seiner Bewegung innehielt und Mavis mit großen Augen anstarrte. Links von sich sah er die beiden Halbwüchsigen. Mavis schätzte die Entfernung zu ihnen auf knapp sieben Meter. Der Junge hatte das Mädchen mittlerweile auf die Beine gebracht, doch schon bei den ersten Laufversuchen schrie es wieder schmerzhaft auf und sackte auf die Knie.
Höchstens zehn Meter dahinter war die gewaltige Insektenbestie, die die Schwäche des Mädchens mit einem zischenden Fauchen kommentierte, während sie weiter voran stampfte.
Mavis wusste, dass er sich jetzt entscheiden musste. Entweder, er rannte los und versuchte, die beiden Kinder vor den furchtbaren Klauen des Feindes zu retten oder er akzeptierte ihren Tod als unumgängliche Folge des Krieges. Doch ihm war klar, dass er sich Letzteres niemals würde verzeihen können, Ersteres aber eine mehr als enge Kiste werden würde. Seine Wahl war daher klar und ohne weiteres Zögern rannte er los.
Er brauchte vier Sekunden, um die Entfernung zu überwinden. Dabei hatte er die Augen ganz fest auf die Bestie gerichtet, die immer näherkam. Mavis hatte das Gefühl, als würde sie nicht nur den kompletten Gang ausfüllen, sondern auch seine ganze, ihn umgebende Welt. Alles vor ihm schien nur noch eine monströse, furchtbare, bösartige Insektenbestie zu sein. Er spürte, wie sein Puls raste und seine Beine schwach wurden, doch er biss derart kräftig auf seine Zahnreihen, dass es schon wehtat.
Er zwang sich, sein Handeln nicht von der Angst vor dem Monstrum überschatten zu lassen, sondern das zu tun, was er tun musste.
Und so rannte er, so schnell er konnte, streckte seine Hände nach den beiden Kindern aus, sein Körper bereite sich bereits auf eine superschnelle, superenge Kehrtwendung vor, noch bevor er die beiden überhaupt erreicht hatte. Mavis war sicher, dass er schneller, besser und effektiver als je zuvor sein würde – und doch war es nicht ausreichend.
Er spürte es bereits einen Wimpernschlag, bevor er die Kinder erreicht hatte, dass es zu spät war. Aber natürlich konnte er nicht abstoppen, noch irgendetwas ändern. Seine Hände bekamen das Shirt des Mädchens zu packen, griffen sofort zu und rissen den kleinen, ausgemergelten Körper an sich. Das Mädchen sperrte sich nicht, schrie nur kurz auf, dann klammerte es seine dürren Arme um Mavis Hals. Mavis aber würdigte sie keines Blickes, denn der war starr nach vorn auf die monströse Kreatur gerichtet, die gerade ihren letzten Schritt in ihre Richtung tat und zeitgleich ihre gewaltigen Klauen weit geöffnet zu ihnen herabsausen ließ.
„Lauf!“ brüllte Mavis dem Jungen zu, während er selbst sich nicht bewegen konnte, weil das furchtbare Maul der Bestie keine drei Meter mehr von ihm entfernt war und sein Gehirn ihm signalisierte, dass es keinen Sinn mehr hatte, noch zu flüchten. Zeitgleich wurde das Brüllen des Monsters immer lauter, dass er glaubte, es müsste gleich sein Trommelfell platzen. Ein widerlich fauliger Atem umhüllte ihn und er spürte deutlich den Luftzug der heranpeitschenden Klauen.
Instinktiv drehte er den Kopf des Mädchens weg vom Geschehen und schloss gleichzeitig seine Augen in Erwartung des eigenen Todes. Einen Augenblick später krachte etwas irrsinnig Hartes mit großer Wucht gegen seinen Körper und drückte ihn kraftvoll zur Seite weg, dass er und das Mädchen, wie Kegel aus der Bahn geworfen und meterweit quer durch den Dschungel geschleudert wurden.
Während er flog, konnte Mavis den verzweifelten, schmerzhaften Schrei des kleineren Jungen hören. Er riss seine Augen auf und musste mitansehen, wie sich die gewaltigen Klauen der monströsen Bestie um seinen Körper schlossen und ihn innerhalb eines Wimpernschlags furchtbar zerquetschten.
Sein Schrei erstarb abrupt und bestialisch. Dann rauschte Mavis in dichtes Unterholz und sein Blickfeld wurde dunkel.
Als er wuchtig zu Boden schlug und die Luft aus den Lungen verlor, wurde ihm das Mädchen aus den Händen gerissen. Während er überall gleichzeitig Schmerzen verspürte, krachte er mit dem Rücken voran auf den Dschungelboden und polterte sich mehrmals überschlagend durch die Gegend, bevor er mit der linken Schulter rüde gegen einen Baum knallte und zum Erliegen kam. Er schrie qualvoll auf und das Bild vor seinen Augen verschwamm. Angesichts des schrecklichen Todes des kleineren Jungen wäre er jetzt liebend gern liegengeblieben und hätte sich seinem Schmerz hingegeben, doch plötzlich tauchte ein Schatten über ihm auf. Mavis riss sich zusammen und erkannte den älteren Jungen.
„Los hoch!“ fauchte er, nachdem er sicher zu sein schien, dass Mavis noch lebte, dann war er auch schon wieder weg.
Mavis versuchte durchzuatmen, doch das gelang ihm nicht. Dennoch drückte er sich in die Höhe, wobei er versuchte, den Schmerz in seinem Körper zu ignorieren. Als er wackelig auf den Beinen stand, sah er, dass der ältere Junge bei dem Mädchen war und es vom Boden hob. Es hatte seine Augen geschlossen, doch irgendetwas sagte Mavis, dass es noch am Leben war, da es der Junge wohl sonst nicht an sich genommen hätte.
Einen Augenblick später waren all diese Gedanken schon wieder unwichtig, denn hinter dem Dickicht konnte Mavis erneut das Monstrum erkennen, wie es sich zu ihnen drehte und mit erfreutem Quieken auf sie zukam.
Mavis atmete tief durch und wollte zu dem Jungen rennen, doch da sah er, dass der sich in seine Richtung drehte. Eine Sekunde später war er neben ihm. „Los jetzt!“ rief er mit finsterer Miene.
Mavis nickte. „Ich nehme sie!“ Er streckte seine Arme aus.
Der Junge gab ihm bereitwillig das Mädchen. „Ich werde nicht anhalten!“ erwiderte er aber dann und in seinem Blick konnte Mavis nichts sehen außer Entschlossenheit.
Im nächsten Moment rannte er schon in einem Irrsinnstempo durch den Dschungel.
Mavis hatte nicht vor, ihn zu verlieren und so beschleunigte er so gut er konnte, während er hinter sich hören und auch spüren konnte, wie das mächtige Insektenmonstrum den Dschungel auf der Jagd nach ihnen umpflügte.
*
Matu rannte, was das Zeug hielt. Seine Lungen kochten, sein Puls raste und schlug bis unter die Schädeldecke. Dabei verspürte er eine verdammte Scheißangst in sich, die ihn beinahe schwindelig werden ließ.
Unmengen an Adrenalin schossen durch seinen Körper und sorgten dafür, dass er weitaus schneller laufen und dieses Tempo auch noch weitaus länger durchhalten konnte, als normalerweise.
Doch das grauenhafte Monstrum in seinem Nacken gab ihm keinen Grund zum Nachlassen.
Tibak und Buras musste es ähnlich ergehen, denn auch sie rannten wie die Teufel, obwohl das Gelände alles andere als einfach zu nehmen war, denn es ging immer steiler bergauf, während der Urwald um sie herum immer dichter wurde.
Doch auch ihr Verfolger hatte immer deutlicher damit zu kämpfen, denn die Steigung nahm ihm seine Geschwindigkeit und allein seine unbändige Kraft reichte auf Dauer nicht mehr aus, um die gewaltigen Urwaldbäume weiterhin zu zerstören, um sich einen Weg zu seinen Opfern zu bahnen.
Entsprechend kamen beide Seiten gleichsam langsamer voran, was den Menschen aber kaum half, da ihnen die Bestie somit noch immer dicht auf den Fersen blieb.
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