Der Guri jagte hinter den Anuriga-Böcken her und brüllte bösartig und wild. Die Böcke wiederum schrien panisch auf und versuchten ihrem Gegner zu entkommen. Dabei schien ihnen das Glück hold zu sein, denn auf der freien Lichtung konnten sie ihren Geschwindigkeitsüberschuss viel besser nutzen und den Abstand zu dem Guri vergrößern.
Während Mavis erlebte, wie sie außerdem noch einen scharfen Haken nach rechts schlugen, konnte er sehen, dass Matu und auch Tibak gleichsam fasziniert von dem Geschehen vor ihnen einen Schritt nach vorn taten und sich jetzt schräg vor ihm befanden. Ein kurzer Blick zu Buras zeigte ihm, dass der Sergeant Schutz hinter einem dichten Busch gefunden hatte.
Mavis wollte den beiden Männern an seiner Seite gerade einen Wink geben, ebenfalls Deckung zu suchen, da die Anuriga-Böcke dem Guri alsbald entwischt sein würden und der sich dann womöglich- oder doch besser sehr wahrscheinlich – frustriert und stinksauer neue Opfer suchen würde, wobei sie ihm gerade recht kommen dürften, als sich plötzlich eine linke Hand fest auf seinen Mund und gleichzeitig ein rechter Arm um seinen Oberkörper schlang und er ruckartig in das Dickicht rechts neben ihm gezogen wurde, wo man ihn sogleich zu Boden drückte.
Mavis stöhnte auf und wollte sich gerade gegen die Kraft in seinem Rücken stemmen, als sich der Arm um seine Brust und auch die Hand von seinem Mund wieder entfernte. Blitzschnell wirbelte er herum, um seinen Widersacher auszumachen, als er abrupt und staunend verharrte, weil er in das Gesicht eines Jugendlichen blickte, der ihn mit großen, reglosen Augen anstarrte. Mavis schätzte den Jungen auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Er wirkte dürr, war aber offensichtlich sehr kräftig. Seine Kleidung, bestehend aus dünnen, selbst zusammengenähten, dunklen Stoffen war vielfach zerrissen und sehr schmutzig. Mavis stieg sofort ein unangenehm erdiger und fauliger Geruch entgegen. Was ihm aber besonders auffiel, war das Gesicht des Jungen. Schmutzig, wie alles andere, besaß er keine Haare mehr auf dem Kopf. Dafür aber breitete sich eine tiefe Narbe quer über sein Gesicht bis zum Hinterkopf aus. Sie führte von der linken Wange unterhalb des linken Auges über die Nasenwurzel zwischen die Augen hindurch quer über die Stirn bis hinter das rechte Ohr. Sie war eindeutig genäht worden, doch sichtlich nicht professionell, denn neben der Narbe hatten sich viele kleine Wulste gebildet, die das einst sicherlich hübsche Gesicht des Jungen einigermaßen verunstalteten, ihm aber gleichzeitig ein viel älteres und sehr verwegenes Aussehen verliehen. Beim Blick in seine Augen wurde Mavis eiskalt klar, dass der Junge durch die Hölle, die er durchlebt hatte, für immer geprägt war. Ganz sicher wusste er, wie er sein Leben zu verteidigen hatte und noch sicherer, würde er nicht zögern, alles dafür Notwendige zu tun.
Mavis war im ersten Moment sprachlos, zumal er hinter dem Jungen zwei weitere Personen erkennen konnte. Es waren ein Junge und ein Mädchen. Sie waren um einiges jünger als er, vielleicht zwölf oder dreizehn. Ihre Kleidung und ihr Aussehen waren nicht minder schmutzig, doch konnte Mavis in ihren Augen neben dem Schrecken des Krieges auch noch ein gewisses Maß an kindlicher Neugier ihm gegenüber erkennen.
Dennoch aber war seine Überraschung, die drei hier zu sehen so groß, dass er nicht drum hin konnte, sich zu äußern. „Was zum...?“
Weiter kam er nicht, denn das Mädchen, das rechts hinter dem größeren Jungen gekauert hatte, spritzte plötzlich förmlich hinter ihm hervor und schlug Mavis mit ernstem Gesicht auf die Wange. Das tat nicht sonderlich weh, erschreckte ihn aber, weil er mit einer solchen Reaktion nicht gerechnet hatte. Bevor er aber nochmals etwas sagen konnte, sah er, wie der Ältere der drei, seinen rechten Zeigefinger auf den Mund legte und ihm mit mahnendem Blick andeutete, still zu sein. Gleichzeitig beugte er sich vor, legte seinen linken Arm um seinen Nacken und deutete mit dem rechten Arm in Richtung der beiden Anuriga-Böcke und dem Guri.
Mavis, der für einen Sekundenbruchteil in den Augenwinkeln sah, dass Matu und Tibak bisher keinerlei Notiz von ihm und den Kindern genommen hatten, weil sie noch immer viel zu fasziniert von dem Geschehen auf der Lichtung waren, nickte dem Jungen zu und sagte leise. „Ich weiß...!“
Doch wieder erntete er Ablehnung in Form eines kurzen Kopfschüttelns. Der Junge deutete ihm nochmals an, still zu sein und zeigte wieder in Richtung des Geschehens.
Irritiert drehte Mavis sich zurück. Kaum hatte er die Tiere wieder ausgemacht, schoss mit einem wilden Fauchen ein zweiter Guri aus dem Dickicht in der Nähe eines gewaltigen, umgestürzten Baumes mit bizarren Wurzeln auf die heranstürmenden Anuriga-Böcke zu. Sein Maul weit aufgerissen, hatte er dort auf der Lauer gelegen und nutzte jetzt die Gelegenheit, blitzschnell nach vorn zu preschen und das vordere Tier direkt aus dem Lauf heraus zu packen. Der Bock schrie schmerzhaft quiekend auf, doch konnte er dem tödlichen Biss der Bestie nicht mehr ausweichen. Während Knochen knackten und Blut spritzte, krachte der hintere Bock noch gegen das Maul des Guri, weil er nicht mehr ausweichen konnte. Dadurch verletzte er sich augenscheinlich so schwer an der Schulter, dass er nicht mehr richtig rennen konnte. Das war die Chance für den hinteren Guri, der sie im nächsten Moment bereits gnadenlos ausnutzte.
Mavis war gleichermaßen fasziniert wie angeekelt von diesem Anblick, doch konnte er sich schnell wieder davon losreißen und wollte aufstehen, um Matu und den anderen von seinem Fund zu berichten. Kaum aber, dass er sich regte, schoss die rechte Hand des älteren Jungen hervor und schloss sich sehr fest um seinen rechten Oberarm. Zusätzlich riss er noch an ihm. Mavis drehte sich herum und starrte den Jungen mit finsterer Miene an, weil er dessen Reaktion jetzt nicht mehr verstand. Die Guri hatten doch, was sie so sehr begehrten. Während sie genüsslich fraßen, bot sich ihnen damit doch eine gute Gelegenheit, die Lichtung ungesehen zu verlassen. Bevor er das aber sagen konnte, wurde das Gesicht des Jungen noch finsterer, als sein eigenes und es war sogar deutlicher Ärger darin zu sehen. Wieder schüttelte der Junge den Kopf und deutete erneut in Richtung der Guri. Mavis war genervt, aber auch unsicher, was der Grund für dieses Verhalten war, doch noch während er sich wieder zur Lichtung umwandte, konnte er eine Art Knacken hören, dass ihm seltsam bekannt vorkam und ihm sofort eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagte.
Denn der umgestürzte Baum mit den bizarr anmutenden Wurzeln, war ganz offensichtlich kein verdammter umgestürzter Baum, sondern - Mavis erschrak und war sofort tief geschockt – er bewegte sich! Die Wurzeln senkten sich über den zweiten Guri, der sich zunächst im Dickicht versteckt hatte, während sie sich weiter nach vorn schoben. Dabei kam ein massiger, dunkelgrüner Leib mit einem kurzen, dicken Schwanz und sechs mächtigen Beinen zum Vorschein. Mavis traute seinen Augen nicht mehr. Das, was sich da bewegte, war eine Insektenbestie, aber eine, die um ein Vielfaches größer war, als alle, die er bisher gesehen hatte. Mavis schätzte sie fünfmal so groß. Ihre furchterregenden Klauen, die er zunächst für Wurzeln gehalten hatte, sanken auf den Guri hinab, während sie einknickten und sich dabei schlossen. Das alles aber geschah nicht schnell, wie er es von den Monstren immer gewohnt war, sondern mit einer schon beinahe widerlichen Langsamkeit und Ruhe, dass ihm die Gänsehaut bis unter die Schädeldecke kroch.
Die beiden Guri waren so sehr mit Fressen beschäftigt, dass sie die Bewegungen hinter sich nicht bemerkten. Erst, als die Geräusche mehr als deutlich wurden und sich der mächtige Schatten der Klauen über sie senkte, erkannten sie sie, doch da war es bereits zu spät. Mit einem tiefen Fauchen schlossen sich die Klauen wie Platten einer Hydraulikpresse um die, weiß Gott nicht kleine Bestie von rund sieben Metern Länge und pflückten sie wie spielend leicht vom Boden. Der Guri erkannte sein Schicksal und brüllte panisch auf, doch schon wurde der zentimeterdicke Panzer, der seinen Körper ansonsten schützte mit einem widerlichen Krachen aufgebrochen und Blut und Gedärme schossen nach außen. Dabei schien die Insektenbestie keinerlei Kraftanstrengung zu benötigen, alles verlief ohne Verzögerungen in einer beinahe fließenden Bewegung.
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