„Also ich für meinen Teil habe mich genug ausgeruht!“ meinte Melia und verstaute ihre Sachen wieder in ihrem Rucksack. Ohne auf Chalek zu achten, erhob sie sich und schulterte ihn schließlich wieder. Dann blieb sie reglos neben ihm stehen und schaute auf ihn herab. „Na los, komm!“ Sie streckte ihm ihre rechte Hand entgegen.
Chalek blicke zu ihr auf, dann musste er wieder lächeln, nahm ihre Hand und zog sich an ihr auf die Beine.
Melia grinste breit, klopfte ihm auf die Schulter und deutete ihm an, wieder die Führung zu übernehmen.
Wenige Augenblicke später durchquerten beide den schmalen Felsspalt, durch den Chalek schon vor Minuten gegangen war. Die Bewegungen des Jungen waren hierbei eher mechanisch, denn er dachte noch immer über Melias Worte nach. Sie hatten ihm gutgetan und er war ihr dankbar dafür.
Doch während sich in seinem Gesicht wieder etwas Zuversicht zeigte, war Melias Blick hinter ihm sehr traurig, denn sie befürchtete, dass dieser Mann, der Chalek so vertraut zu sein schien, nichts als Ärger und Enttäuschung über sie bringen würde.
*
Vilos Aktionen waren zum einen nach vorn, zum anderen nach hinten gerichtet.
Nach vorn, um mit größter Aufmerksamkeit den schmalen Weg zu ihren Füßen schnellstmöglich zu sondieren und nach Schwachstellen oder Gefahrenpunkten abzusuchen.
Nach hinten, um zu sehen, ob und wie die Anderen aus seiner Gruppe mit seinem dennoch immens hohen Tempo mithalten konnten.
Doch zu seiner Überraschung machte weder das Eine, noch das Andere im Moment Probleme.
Der Weg, so schmal und steil er auch war, zeigte seine gefährlichen Ecken und Kanten schon frühzeitig, sodass sie gut vorankamen. Leira zeigte natürlich noch keinerlei Ermüdungserscheinungen und auch Jovis war noch immer aufmerksam bei der Sache. Und Kaleena schien eine weitaus bessere Kondition zu haben, als ihr Mann ihr zugetraut hätte. Ein Blick in ihr schmutziges, aber auch jetzt noch atemberaubend schönes Gesicht zeigte weiterhin große Entschlossenheit, die sie sichtlich antrieb. Vilo musste kurz lächeln. Die Suche nach den Menschen auf dem Tafelberg war ihre Idee gewesen und er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass sie ihre ganze Kraft darauf verwenden würde, sie zu finden.
Im nächsten Moment trafen sich ihre Blicke. Kaleena blieb stehen, schaute ihn zunächst etwas überrascht an, dann aber lächelte sie zurück und nickte ihm zu. Offensichtlich dachte sie, er wolle sehen, ob noch alles okay war.
Vilo erwiderte ihr Nicken und wandte sich wieder um. Bevor er weiterging, machte er einen halben Schritt nach rechts und schaute an der beinahe senkrechten Felswand hinab in die Tiefe. Sofort riss er seine Augen auf und schürzte die Lippen, während er den Kopf zufrieden hin und her wiegte. Sie waren schon viel weitergekommen, als er gedacht hätte. Unter ihnen lagen sicher schon mehr als zweihundert Höhenmeter. Wenn sie weiterhin Glück hatten und in ihrer Kraft und Ausdauer nicht allzu sehr nachließen, konnten sie den Gipfel in weniger als vier Stunden erreichen.
Doch wer wollte schon ernsthaft damit rechnen, dass in dieser schier endlosen Zeit nichts geschehen würde, was ihre Pläne durchkreuzen konnte?
*
Etwa einhundert Meter, nachdem sie die Kitaja verlassen hatten, hatten sie den Gipfel der Verwerfung erreicht und es begann ein steiler Abstieg nach Norden durch dichten Dschungel, der tückisch war, da der Boden sich oft genug weich und rutschig präsentierte und auf dem Abhang überall scharfkantige Felsbrocken im Weg lagen.
Sie mussten höllisch aufpassen, nicht auszurutschen und sich daran zu verletzen.
Buras hatte die Führung übernommen. Ihm folgten Mavis und Matu. Die Nachhut bildete Captain Tibak. Sie alle bewegten sich schnell, aber dennoch beinahe lautlos. Die hohe Luftfeuchtigkeit hier sorgte dafür, dass ihre Kleidung sehr bald durchgeschwitzt war und eklig an ihren Körpern klebte. Sie machten selten Rast, tranken aber regelmäßig Wasser.
Der dichte Dschungel sorgte für eine fast permanente Dämmerung am Boden, was ihren Weg nicht einfacher machte. Nur hier und da stach die Sonne wie Säbelklingen durch das Blätterdach und sorgte für einen bessern Blick auf ihre Umgebung. Und die lebte eindeutig! Immer und überall waren Geräusche zu hören. Laute, Rufe, Scharben, dumpfe Schläge, Rascheln. Und immer und überall war Bewegung zu spüren. Schritte, dunkle Schatten, die umherhuschten.
Nein, sie waren ganz sicher nicht allein hier, doch blieb ein Kontakt, welcher Art auch immer, bisher aus. Mavis führte das darauf zurück, dass es noch immer helllichter Tag war, wenngleich man dieses Gefühl hier nicht unbedingt haben konnte. Die Zeit der größeren Räuber aber würde sicherlich der Abend und noch mehr natürlich die Nacht werden. Vielleicht war es eine wirklich gute Idee, zu diesem Zeitpunkt den Dschungel verlassen zu haben. Mavis beschloss, diesen Gedanken nicht mehr zu verwerfen und sich zu gegebener Zeit rechtzeitig wieder daran zu erinnern.
Jetzt aber bemerkte er, dass der Weg vor ihnen merklich flacher wurde. Offensichtlich mussten sie den Fuß der Verwerfung erreicht haben. Damit waren sie ihrem Ziel schon ziemlich nahegekommen.
Wenige Minuten später lichtete sich der Dschungel um sie herum allmählich. Immer mehr Sonnenlicht strömte hinab und sie konnten jetzt nicht mehr einfach so ihren Weg fortsetzen, sondern mussten darauf achten, den Schutz der Bäume und des Unterholzes zu nutzen. Die Wahrscheinlichkeit auf feindliche Spezies, insbesondere der widerlichsten Art, zu treffen, stieg von Minute zu Minute.
Wie lange sie mittlerweile unterwegs waren, vermochte Mavis nicht zu sagen, doch der Blick zum Himmel zeigte eine immer schneller fortschreitende Dämmerung.
Plötzlich verspürte er eine leichte Erschütterung des Bodens. Augenblicklich erklangen in ihm sämtliche Alarmglocken und er verlangsamte seinen Gang. Während er sich hektisch auf der vor ihnen liegenden Lichtung umschaute, erkannte er, dass Matu ebenfalls abstoppte. Auch Buras etwa fünf Meter vor ihnen blieb stehen. Tibak trat von hinten neben Matu und sie alle blickten angestrengt nach vorn.
Das da etwas sein musste, war ihnen allen klar, denn die Erschütterungen des Bodens nahmen zu. Doch als Mavis bereits mit dem Schlimmsten rechnete, nämlich einer Horde anstürmender Insektenbestien, hörte er ein panisches Quieken von der anderen Seite der vielleicht dreißig Meter breiten Lichtung und nur einen Augenblick später schossen zwei halbwüchsige Anuriga-Böcke aus dem Dickicht dort hinaus ins Freie. Die Gazellen-ähnlichen Wesen waren etwa halb so groß, wie ein ausgewachsener Mann, hatten dunkelbraunes, sehr kurzes Fell und vier schlanke Beine, mit denen sie eine beachtliche Geschwindigkeit erreichten. Deutlich war ihr schmaler, langgezogener, nach unten gebogener Kopf zu sehen. Ihre Mäuler waren in echter Panik weit aufgerissen war. Auf der Schädeldecke standen die für diese Art charakteristischen Hörner in die Höhe. Es waren zwischen sechs und zwölf Stück – je nach Alter und Geschlecht – sie wurden etwa dreißig Zentimeter lang und sie wuchsen wild in alle Richtungen.
Mavis Körper spannte sich bei ihrem Anblick automatisch an. Dass die Tiere offensichtliche Panik hatten und auf der Flucht waren, sah man deutlich. Und das konnte doch nur heißen, dass...
Einen Augenblick später war ein tiefes, bösartiges Brüllen zu hören und der Dschungel schien dort, wo die beiden Böcke noch vor einer Sekunde gewesen waren förmlich zu explodieren. Doch nicht etwa durch eine Gruppe heranrauschender Insektenbestien, sondern durch den riesigen, massigen und sehr muskulösen Körper eines Guri-Reptils. Trotz seiner eher plumpen, Echsen-ähnlichen Körperform hatte es eine beachtliche Geschwindigkeit und seine vier kräftigen Beine donnerten dumpf auf den Dschungelboden. Die für seine Spezies charakteristischen, wiegenden Bewegungen von Kopfteil und Schwanz ließen es noch alberner wirken, zumal diese Bewegungen auch noch gegenläufig waren. Angesichts des absolut furchterregenden, gut einen Meter langen Mauls, das gespickt war mit drei parallelen Reihen messerscharfer Backenzähne und vier mächtigen, spitzen, sicherlich dreißig Zentimeter langen Reißzähnen im vorderen Bereich, kam jedoch bei keinem der Männer Spott auf, denn sie waren sich sofort bewusst, dass sie es mit einem wahren Monstrum zu tun hatten.
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