Ein wichtiges Detail in seiner Erzählung störte sie jedoch, also fragte sie: „Ihr wandert also seit Wochen mit dem für die Nachtkatzen ach so wichtigen Beutel herum und jagt nebenbei Gefallene, die euch zur Strecke hätten bringen können. Zudem droht besonders einem Geächteten nicht gerade wenig anderes an Üblem, warum also hat nicht schon viel eher eine Übergabe statt gefunden?“
Er antwortete: „Es fand auch eine statt, nun ja, beinahe. Ein Gesandter traf mich am nördlichsten Ausläufer der Wüste. Ich gab den Beutel. Er prägte einen manifesten Geist auf mich, der mir die Spur zu den Gefallenen weisen sollte. Da erschien plötzlich ein Werlöwe. Ich hatte sie unterschätzt, sie hatten mich doch so weit verfolgt, oder vielleicht war es auch ein dummer Zufall, denn er war allein. In der Überraschung fiel zuerst die Werkatze, dann attackierte er mich. Ob er mich wohl als Geächteten erkannt hatte oder er einfach seinem Zorn freien Lauf ließ? Er war ein würdiger Gegner gewesen, ein guter Kampf. Ich begrub schließlich beide, auch wenn dafür eigentlich keine Zeit war. ,Hark' hatte die Nachtkatze noch dreimal geröchelt, mich mit festem Blick anstarrend und ihre Hand um meine Schulter krampfend, ehe sie endgültig diese Welt verließ.“
Für Sanara ergab die Erklärung Sinn. Sie sprach: „Ich verstehe. Euer Versprechen zuerst, also die Gefallenen. Dann das Versprechen an die Nachkatzen, der Beutel nach Hark. Die Stadt muss wohl der nächstgelegene Hort ihres Klans sein. Und das Töten eines Bruders vom Klan Löwe war wohl unvermeidlich?“
„Glaubt mir, es lag keine Freude in meinem Sieg. Ihr wisst, Gesetz und Ehre verbieten Mord in unseren Reihen, aber es war klar, dass er mich um jeden Preis zur Strecke bringen wollte. Ich musste mich verteidigen.“
„Gewiss, ihr hattet keine Wahl“, sagte sie etwas spöttisch, auch wenn es ohne Zweifel so gewesen sein mochte, wie er ihr es berichtet hat.
Aber Sanara war längst nicht so naiv zu glauben, die Werkrieger aller Klans würden ein gegenseitiges Töten in extremen Situationen immer und um jeden Preis vermeiden wollen. Im Wilden Heer ging es manchmal grausamer zu, als die Streiter des Allvaters, aber auch die Matronen offen zugeben wollten. Dennoch galt es sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass das sterbliche Menschenvolk sich über die Zeitalter hinweg als viel grausamer erwiesen hatte.
Sanara stand auf, ging einige Schritte in Richtung des Baches. Das vorbei fließende Wasser funkelte. Der Werwolf blickte ihr hinterher, ihre Entscheidung erwartend. Sie stemmte beide Arme an die Hüfte, drehte sich zum Geächteten.
Dann verkündete sie: „Es ist nicht so, dass ihr mich voll überzeugt hättet, dass ich vom direktesten und schnellstmöglichen Weg zum Wald der Welt abweichen möchte, aber ihr tut ohnehin erneut nur dies, was ihr trotz allen zusätzlich möglichen Gefahren tun wollt. Aber ich muss zugeben, dass die Versprechen, die euch leiten und die somit auch mich vom Gehorsam zum Befehl abschweifen lassen, nicht gänzlich ohne gute Gründe sind. Also so soll es jetzt Hark sein, ehe wir eiligst und allein tun wie vom Großen Vater Gorond geheißen.“
Ihre Augen in die seinen bohrend deutete sie mit dem Finger auf den vor ihr sitzenden Werwolf und verlautete: „Aber schwört mir beim Allvater hier und jetzt, dass ihr nichts mehr vor mir verbergt, dass uns erneut vom Weg abbringen könnte oder uns beide in Gefahr brächte! Denn ich schwöre bei der Allmutter hier und jetzt, dass, so solltet ihr euch erneut dem Befehl in dieser Weise widersetzen, ihr mich mit all meiner Macht, zu der ich fähig bin, herausfordern werdet!“
Er wusste, dass es ihr voller Ernst war und er wusste auch, dass sie sich ihm nicht erneut für neue Belange fügen würde. Aber es gab auch kein Versprechen mehr, dass er gegeben hatte und dass ihnen nach dieser Queste ihm Weg stehen würde.
So sprach der Geächtete: „Ich schwöre es beim Allvater, Schwester. Ihr habt mein Wort.“
Sie senkte die Arme. Dies musste ihr genügen. Sie setzte sich wieder auf den mit Moos bewachsenen Stein. Sie schwiegen eine Weile, ließen ihr Gespräch im Geiste noch ein wenig nachhallen. Die schwerwiegende Entscheidung würde das Schicksal ihrer kommenden Tage bestimmen. Vieles würde erlebt werden, würde ihr Abenteuer noch größer werden lassen.
Da zeigten sich dutzende Sternschnuppen am Himmel, die wie ein Schauer von weißen Speeren das nächtliche Firmament noch mehr erleuchten ließen. Fasziniert blickten sie beide hoch. So viele Wunder hatte die Allmutter geschaffen, so viele Wunder in der Welt und weit über sie hinaus. Und all dies war bedroht vom Einen Feind.
Als die letzte Sternschnuppe verglüht war, sagte Sanara zu ihrem gegenüber sitzenden Begleiter: „Ihr habt mich nie gefragt, weshalb ich euch ganz allein aufgesucht habe und warum ausgerechnet ich nach euch entsandt wurde.“
Er blickte sie an und sprach: „Ja. Aber es wundert mich in der Tat, dass eine so junge Matrone alleine von Gava Meduna aus dem Wald der Welt so weit weg geschickt wurde, noch dazu um einen wie mich heim zu holen.“
„Ihr müsst wissen, Wolf, dass ich mich auch zuerst geweigert habe. Warum auch sollte einer wie euch es wert sein? Und selbst wenn, warum nicht andere Wölfe, Krähen oder menschliche Gefolgschaft nach euch schicken? Gorond selbst wird mich wohl nicht erwählt haben, auch wenn es gewisslich sein Geheiß ist, euch heim zu bringen. Es war also die Ehrwürdige Matrone, die dies entschieden hatte. Ihr müsst wissen, dass Gava Meduna meine Meisterin ist, die mich in meiner Ausbildung von der Novizin zur vollwertigen Matrone und damit zum Titel Deva anleitet. Darüber hinaus habe ich ihr noch weit mehr zu verdanken, aber dies tut hier nichts zur Sache. Wie ihr wisst, muss eine jede Matrone als Teil des Aufstiegsritus weit in die Welt gehen und für den Zirkel eine besondere Aufgabe erfüllen. Dies ist die meine, euch zu finden und heim zu bringen.“
Er wusste, dass es für ein paar besondere Worte an der Zeit war: „Keine geringe Aufgabe, wahrlich. Eine einsame Frau, so fern vom Zirkel, in einer von drohenden Schatten erfüllten Welt. Allein mich aufzuspüren war wohl schon schwierig genug. Dann die Heilung vom Gift, die Hilfe bei der Jagd nach Gefallenen und sicheres Geleit. Ihr habt euch jetzt schon bewiesen. Seid stolz, dass ihr so jung schon so große Macht und offensichtlichen Scharfsinn errungen habt. Ich kenne euch noch nicht so lange und ich will euch nicht schmeicheln, werte Sea Sanara, aber ihr sollt wissen, dass ich euch dankbar bin und schätze.“
Er schwieg kurz, aber dann sprach er noch: „Verzeiht, Schwester, wenn ich euch durch mein Handeln noch mehr Gefahr aussetze, als eigentlich nötig.“
Dies hatte sie von dem Geächteten so nicht erwartet. Auch wenn sie es nicht zu offensichtlich zeigen wollte, aber sie war durchaus gerührt von seinen Worten. Gerade die Werwölfe waren wenig bekannt für solches Reden.
„Die Jahre im Exil haben euch verändert, nicht wahr?“, so sagte sie auf ihre so typische, ihn leicht überrumpelnde Weise, „Früher hättet ihr nicht so leicht von Dankbarkeit und Verzeihen gesprochen, von Anerkennung, wenn überhaupt.“
Das Feuer zwischen den beiden brauste mit einem Windstoß hoch auf. Er wollte ihrem Blick nicht lange standhalten. Er schwieg eine Weile, sah einen Wolf, der sich am Rande ihrer Lagerstätte kurz zeigte, ehe er wieder in den Wald verschwand. Ein Rudel dieser wilden Tiere suchte offenbar gerade ihre Nähe.
„Ja“, sagte er schließlich, „Ein Geächteter zu sein heißt ein Anderer zu werden. Man lernt gewisse Dinge mehr zu schätzen, erkennt das eigentlich Bedeutende. Und viel grauer ist sie, die Welt, weniger schwarz und weiß als man zuvor geglaubt hat. Fragen bleiben, wo einst eindeutige Antworten waren. Mit der Einsamkeit, so müsst ihr wissen, kommt auch schmerzhafte Klarheit.“
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