Der Geächtete blickte nach Westen, dorthin, wo ihn und die Matrone die Reise führen würde. Weite Urwälder und Sumpfland würden sie durchstreifen, meist fernab der Straßen und Ansiedlungen der Menschen, die von dem Land unter den Baumkronen entfremdet keinen Begriff mehr von der tatsächlichen Größe und schönen Erhabenheit der alten Forste hatten. Die wahren Herrscher der grünen Wildnis waren aber noch immer die Wilden Götter und die Erwachten. Nichts mussten sie dort fürchten, in ihrer Heimat aus Rinde und Blatt, außer Gefahren aus dem Geisterreich oder die Diener des Einen Feindes. Für ihn aber galt es aber noch mehr auf der Hut zu sein. Gebührende Vorsicht war in den Territorien der Klans geboten, denn einen Geächteten, selbst in der Begleitung einer Matrone, würden diese nicht ohne weiteres ziehen lassen. Die südlichen Provinzen der beiden Imperien waren größtenteils noch unberührt von der Zivilisation, die sich jedoch Jahr um Jahr immer weiter und tiefer in die unerschlossenen Lande fraß. Die Reviere der meisten Klans waren in jener Region noch nicht direkt betroffen, aber zu oft schaute seinesgleichen einfach nur zu, beim Raubbau am Land der Allmutter. Nach Holz gierte es den Menschen, nach Holz, das in Öfen brannte, zur Kohle wurde, Weideland wich, dem das Harz heraus gepresst wurde, das für Bergwerke, Glashütten, Schiffe und Häuserbau verschwendet wurde. Der Geächtete verachtete zutiefst die Respektlosigkeit, die Gewalt und die Grausamkeit, die die Menschen durch dieses Tun offenbarten. Wäre der Alte Glaube noch so mächtig wie früher, dann würden sie es nicht wagen, dann würden sie die Forste ehren und wahrhaft fürchten, anstatt sie mit Feuer und Axt vom Antlitz der Erde zu tilgen.
Da begann die Luft hinter dem Werwolf, der jäh aus den Gedanken gerissen wurde, zu vibrieren, schien wie in Hitze zu wabern, sich irgendwie zu verdichten und dabei leicht zu strahlen. Ein unwirtlich hallendes Geräusch war leise zu hören, wie ein Klirren aus einer anderen Welt. Dies alles dauerte nur wenige Sekunden, ehe sich ein Schemen zeigte, der mit einem Mal aus sich heraus trat . Sea Sanara stand vor ihm, ihre ganze Erscheinung glühte noch etwas nach für einige Momente. Sie hatte ihre Augen geschlossen, öffnete sie mit einem distanzierten Ausdruck, der sich nicht ganz beschreiben ließ. Es war jenes verglimmende Glänzen im Blick, mit dem das wahre Wesen in allen Dingen erspäht worden war. Sie fasste sich, nahm Haltung an.
Die junge Matrone war durch das Geisterreich, zumeist Weltschatten genannt, gestreift. Vieles konnte dort erfahren und gesehen werden, gänzlich andere Pfade mochten dort beschritten und gänzlich andere Orte aufgesucht werden. Und natürlich gab es dort gütige und böse Geister in großer Zahl. Die Zauberinnen der Allmutter wussten seit jeher, wie sie die Schleier der Wirklichkeit hinter sich lassen konnten. Es war ein wesentlicher Teil ihrer Macht und ihres Wissens. Auch alle Werkrieger hatten die Gabe im Traum oder in physischer Form das rein spirituelle Reich zu betreten, aber nicht so der Geächtete, denn als er von seinem Klan und Gott ausgestoßen worden war, da wurde er auch verflucht und ihm wurde diese Gabe geraubt. So war er fortan dazu verdammt als Wesen zweier Welten nur in einer einzigen zu wandeln. Er beneidete sie dafür, dass sie drüben sein konnte.
„Nun, habt ihr Kunde? Was sagt das Land, Schwester?“, fragte er in ungewollt ungeduldigem Tonfall.
„Nicht viel und von dem Wenigen, werde ich euch noch weniger verraten“, begann Sea Sanara etwas abweisend, „Es reicht, wenn ihr wisst, dass uns keine unmittelbare Gefahr droht. Die Geister zeigen wenig Interesse an uns, auch wenn einige dankbar waren, dass wir zwei Verderber verschwinden hätten lassen, deren bloße Präsenz eine dunkle Spur im Weltschatten hinterließ. Der Weg ist noch weit und wir müssen die verlorene Zeit unbedingt wieder einholen.“
Die knappe Rede hatte er erwartet. Ihr Verhältnis blieb distanziert, auch wenn sie nun schon einige Tage gemeinsam auf Wanderschaft verbracht hatten und sie ihm Heilung und Hilfe gegeben hatte. Nur das Nötigste an Worten ist gewechselt worden. Das Schweigen bestimmte meistens ihre Gespräche. Schließlich, und dies war beiden klar, war er noch immer ein Geächteter, der ohne Name, ohne Würde und ohne Beistand von Klan und Zirkel auszukommen hatte. Nur der Große Vater Wolf konnte ihn wieder zu dem erheben, was er einst gewesen war und erst dann musste sie ihn wieder als Teil der Gemeinschaft des Wilden Heeres mit Respekt behandeln. Dass sich Sea Sanara ihm in gewissen Sinne annahm, tat sie nur aufgrund eines Befehls, allein, weil es ihre zugewiesene Aufgabe war. Etwas Freundschaftliches keimte jedoch langsam zwischen den beiden. Weshalb er zurückhaltende Sympathie für sie hatte lag auf der Hand, aber da war auch ein gewisses Wohlwollen von ihrer Seite aus, das zunahm, auch wenn ihr noch nicht ganz klar war weshalb. Vielleicht war der uralte Bund zwischen den Ihren und den Seinen selbst in diesem Fall sehr stark.
Die junge Matrone überlegte eine Weile, runzelte etwas sorgenvoll die Stirn. Dann sprach sie ihm zugewandt: „Wisset, als ich euch fand, hat jenseits des Übergangs etwas gelauert, aber uns nicht gen Osten verfolgt. Wenn wir nun die andere Himmelsrichtung weiter bereisen, taucht es vielleicht wieder auf. Es ist alt und mächtig, aber es weiß sein wahres Wesen zu verbergen. Ich vermag es nicht einzuschätzen.“
Er nickte. Ein böser Geist mit genug an Macht konnte sehr gefährlich werden, besonders wenn er in die Dieswelt eindrang. Es mochte nicht sehr wahrscheinlich sein wiewohl, noch weniger, dass das Wesen auf der Jagd nach ihm und der Matrone war.
Sie verwischten die Spuren des Lagers, beseitigten Hinterlassenschaften und verräterische Abdrücke in der Erde. Er legte seine wenige Ausrüstung an, sie sprach noch ein kurzes Gebet. Sanara schritt schon los, drehte sich dann aber doch noch zu ihm um.
„Was habt ihr eigentlich am meisten vermisst in all den Jahren, Wolf?“, fragte sie überraschend.
Der Geächtete musste ein wenig nachdenken, wobei er die Frage zuerst gar nicht beantworten wollte. Aber seitdem sie ihm solch besonderen Beistand geleistet hatte, hatte sie immer eine Antwort von ihm verdient. Auf alles.
„Viel,“ so sprach er mit abgewandten Blick, „Aber dann doch nur eines. Zuerst war da Einsamkeit, die schmerzte. Keine Brüder, kein Rudel, keine Schwestern, kein Klan. Aber man lernt dies hinzunehmen. Dann war es die Unmöglichkeit, in den Weltschatten wieder einzukehren, die irgendwann zur Unerträglichkeit wurde. Die Gaben schwinden, die Geister bleiben stumm. Und nicht einmal mehr Träume in der Nacht. Man muss es akzeptieren. Aber irgendwann geht mehr und mehr der Sinn in allem verloren. Im Denken wird man zum Frevler. Verliert sich. Auch der Körper beginnt zu verfallen, ist wie ausgezehrt, schwach. Man wird zur Hülle, die nur noch jagt und schlachtet. Dabei mit der steten Hoffnung doch einen ehrenvollen Tod im Kampf zu finden. Nur ein Windhauch der Allmutter, ein letztes Stolpern vor dem Abgrund und man würde für immer vergehen.“
Er schwieg für eine Weile, dachte an die Dinge, die ihm in den fünf Jahren im Exil widerfahren waren. Manches war mit einem Schmerz verbunden, der noch immer nicht verschwunden war. Ihm fiel auf, dass ihm die sehr offenen Worte ungewöhnlich leicht über die Lippen kamen. Aber vielleicht brauchte er das gerade, das Reden, das Loswerden.
Dann sagte der Geächtete zu Sanara in einem etwas gebrochenen Ton: „Aber das Einzige, was mich schließlich wirklich fast gebrochen hätte, war die Gewissheit, dass ich nie wieder die stolze Stimme meines Gottvaters hören würde, nie wieder seine machtvolle Präsenz fühlen durfte, die er mir als sein Kriegerkind zuvor sooft zuteil hatte werden lassen. Nie wieder mit ihm ziehen, nie wieder mit ihm heulen, nie wieder gemeinsam über den Feind triumphieren. Nur allein, ohne Bestimmung, gottlos.“
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