Die junge Matrone blieb darauf wortlos. Ihr Antlitz war ungerührt, auch wenn dies mehr Fassade war. Auch sie hoffte, dem Gottvater aus seiner Erinnerung wieder zu begegnen und dass es nicht zu spät sein möge, wenn sie zurückkehrten. Er wusste offenbar noch nichts vom bereits weit fortgeschrittenen Verfall Goronds. Sie würde dem Geächteten noch nichts sagen, es war noch zu früh. Die Hoffnung musste ihn weiter antreiben. Kurz kam es ihr in den Sinn, dass sie ihn gerade in gewisser Weise belog, was ihr gerade fast schmerzhaft falsch erschien. Es musste aber als Rechtfertigung genügen, dass es sich lediglich um ein notwendiges Verbergen von Wahrheit handelte. Außerdem sei er ja ein Ausgestoßener, der vorerst nicht mehr verdient hatte, so dachte sie. Dann wies sie mit dem Stab in die Richtung, die ihr vorbestimmter Pfad sein sollte. Er nickte. Sie brachen auf, eilten in dunkler Stunde in ihrer jeweiligen Reisegestalt wieder weiter gen Westen.
Kapitel 4 - Begegnungen unter dem Mond
Mehr noch als sonst beherrschte die Dunkelheit den Wald in jener Nacht. Kein Licht von den Gestirnen, denn Wolken verhangen pechschwarz das Firmament. Nur ganz selten zeigten sich Sterne, glimmten wie eine schwache Erinnerung an sich selbst. Der Wind brachte ein Rauschen ins Blätterdach, das sich weiter steigerte und kurzzeitig wie ein zorniges Grollen klang. Als er wieder abebbte, war es wieder allein die lebendige Wildnis, die man hörte. Es knackte im Unterholz. Eine Eule heulte. Kurz darauf fauchte eine Wildkatze. Kleinere Tiere huschten raschelnd durch das Laub. Einige flohen plötzlich mit angsterfüllten Tönen, denn der Jäger war gekommen.
Mit großer Hast klatschte eine schwarze Pfote in eine Wasserpfütze. Der Werwolf raste in Tiergestalt durch den Wald. Hechelnd lief er zwischen den Bäumen einer Anhöhe vor sich hoch. Zielgerichtet bewegte er sich mit eleganten Bewegungen fort. Wie Wasser, wie ein fließender Schatten glitt er auf dünnen Beinen, die in der Geschwindigkeit des schnellen Laufes flirrten. Der große Schädel weit nach vorne gestreckt, mit dem Schwanz stets das Gleichgewicht balancierend. Der Beutel auf seinen Rücken gebunden war wie ein wippender Buckel, der manchmal an der umgebundenen Schnur hoch in die Luft flog.
Mit scharfen Augen, die in der Nacht so gut sahen wie bei Tag, erspähte er in der Entfernung eine lang gezogene, felsige Kluft, die seinen Weg kreuzte. Die gespitzten Ohren erzählten ihm vom plätschernden Nass darunter. Mit der Schnauze konnte er sogar die Fische riechen, die im großen Bach mit der Strömung schwammen. Schnell schätzte er die Entfernung ab. Der Sprung sollte kein Problem sein. Mit einem gewaltigen Satz war er auf der anderen Seite, landete weich auf mit Moos bewachsenen Steinen. Nur wenige Meter weiter hatte er wieder seine volle Laufgeschwindigkeit erreicht.
Ein rötlicher Schatten flatterte vor gerade zaghaft glimmenden Sternen. Die Krähe krächzte laut von oben herab. Fast gleichauf mit ihrem wilden Gefährten glitt sie mit ausgebreiteten Flügeln über die Baumkronen hinweg. Der Flugwind zerzauste ihr glänzendes Gefieder. Die dunkelgrünen Augen blickten suchend über das Land hinweg. Ein weiteres Mal gellte sie einen Laut mit langem Schnabel. Sie streckte die Beinchen kurz aus, zog sie dann aber wieder rasch an sich heran um den Luftwiderstand zu minimieren.
Weshalb verwandelter Werwolf und Matrone allein die Nacht für das Reisen bevorzugten war klar, denn in den dunklen Stunden waren sie schneller, scharfsinniger und machtvoller. Es war ihre natürliche Zeit, die Zeit, in der ihre Götter und Vorfahren dereinst geboren wurden. Die meisten Menschen fürchteten die Welt, wenn sie ohne Sonne war, fürchteten was sich im Schatten verbarg, was sie nicht klar sehen konnten, was sie vielleicht nur hörten, nur viel zu kurz erspähten, argwöhnten, fantasierten. Und alle Sterblichen, die allein den Tag anbeteten, fürchteten sich nur allzu recht, denn Monster lauerten tatsächlich in der Finsternis. Auch der Werwolf war ein Monster, aber eines, das das Volk der Menschen beschützte. Das Geisterreich war näher unter dem Mond, der Übergang zwischen den Welten weniger weit. Die eigentliche spirituelle Kraftquelle der Erwählten damit leichter zugänglich. Dies bedeutete wiewohl, dass gute wie böse Geister einfacher in die Dieswelt eindringen konnten.
Mit kräftigem Flügelschlag eroberte die rote Krähe weitere Höhe. Da zeigte sich ein zunehmendes Schimmern im Blick, seltsame Formen und Farben spiegelten sich darin, die aber in der pechschwarzen Umgebung des Landes keinen Ursprung haben konnten. Sie blinzelte. Eine der großen Formen begann zu wogen, wurde schnell größer, dann schloss sie die Augen kurz, öffnete sie wieder im natürlichen Glanz. Heftiges Flattern, strauchelnder Flug. Sie krächzte wieder, sehr laut, deutlich hörbar für den Wolf.
Dieser verstand sofort. Sie änderte die Richtung, bog scharf gen Norden mit kräftigen Schlägen ihrer Schwingen. Er schlug einen Haken und folgte ihr zu ebener Erde.
Die Tiere der Nacht wurden unruhig, schrien schließlich gemeinsam in Furcht. Vögel flohen von einem unbestimmten Ort im Forst, der kaum zwei Meilen vor den beiden verwandelten Gefährten lag, von dem sich diese aber nun mit zunehmender Geschwindigkeit entfernten. Dort erzitterten mit einem Mal die Bäume und ihren Kronen wurden die Blätter entrissen, die wiederum hoch und immer höher wirbelten. Sie formten einen scheibenförmigen Zyklon an jener Stelle in der Luft, wo der Mond vermutet werden konnte. Da zuckten seltsame Blitze und ein zunehmend schriller Ton war zu hören. Das Schauspiel war so unwirtlich wie erschreckend. Irgendwann schien es aber seinen Höhepunkt erreicht zu haben und die Ruhe der Dunkelheit gewann wieder ihr Reich zurück. Bald erinnerten nur noch einige gebrochene Äste und das von großer Höhe fallende Laub an das eben Geschehene.
Weiter und immer weiter lief der Wolf, dem sicheren Geleit der Krähe folgend. Viele Meilen legten die beiden Geschöpfe in dieser Nacht noch zurück, ehe sie erst mit dem Morgen wieder Ruhe finden würden.
Die bleiche Sichel des abnehmenden Mondes spiegelte sich im schwarzen Wasser des Weihers. Sumpf und Wald gingen in dieser unwirtlichen Gegend ineinander über. Der Boden war an vielen Stellen weich und morastig, dennoch konnten feste Pfade leicht ausgemacht werden zwischen Farnen und von Moos bewachsenen Steinen. Pilze wucherten zahlreich. Totholz ragte halb versunken empor. Vereinzelt kroch Dampf aus versteckten Löchern. Ein gewisser Fäulnisgeruch hing in der Luft, die sich hier schwerer und wärmer anfühlte. Zahlreiche Insekten schwirrten zur späten Stunde umher. Fledermäuse waren ihre Jäger. Frösche quakten, Grillen zirpten, Glühwürmchen tanzten. Auf den klebrigen Fangblättern des fleischfressenden Sonnentaus zappelten Fliegen.
Etwas unruhig und vor allem durstig streifte der Geächtete in Wolfsgestalt umher. Eine überraschende Erschöpfung hatte ihn einige Meilen zuvor gepackt und obwohl der Morgen zur Rast noch eine Stunde fern war, wollte er sich hier doch eine Pause gönnen. Schwer hechelnd trottete er langsam auf das tiefe Nass des Weihers zu, das willkommene Erfrischung verhieß. Kurz hielt er inne, denn irgendetwas gab ihm gerade ein ungutes Gefühl. Er stellte die Ohren auf, hielt die Schnauze in die Luft, suchte die Umgebung mit seinen zweifarbigen Augen ab. Der Wind rauschte etwas lauter durch die Blätter und das erwartbare Getier schlich mit zunehmenden Abstand an ihm vorüber, bis auf eine kleine Smaragdeidechse, die sich erstaunlich unbeeindruckt von seinem Wesen zu seinen Pfoten vorbei bewegte. Nichts war, weswegen er sich irritiert oder gar bedroht fühlen sollte. Da fiel ihm auf, dass er die rote Krähe vermisste. Kurz zuvor hatte sie noch ihre Kreise über ihm gezogen, aber nun war sie schon eine Weile zu lang aus seinem Sichtfeld verschwunden. War sie etwa weiter geflogen und hatte nichts bemerkt von seiner frühen Verweilen? War sie bereits in seiner Nähe gelandet und verwandelte sich gerade zurück? Nein, er sah sie nicht, roch sie nicht, hörte sie nicht. Er knurrte und dachte, er mache sich zu viele Gedanken und außerdem hatte er jetzt einfach nur Durst. Er entwand sich mit dem Maul vom umgehängten Beutel, dann trottete er zum Rand des Weihers und begann zu trinken. Mit der Zunge labte er sich am Wasser, fühlte sich zunehmend gestärkt.
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