Emanuel Müller
Der Fluch der Wölfe
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Kapitel 11.
Kapitel 12.
Kapitel 13.
Kapitel 14.
Kapitel 15.
Kapitel 16.
Kapitel 17.
Kapitel 18.
Kapitel 19.
Kapitel 20.
Kapitel 21.
Kapitel 22.
Kapitel 23.
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Die Schönheit religiösen Fanatismus besteht darin, dass sie die Macht hat, alles zu erklären. Ist erst einmal Gott (oder Satan) als erster Grund für alles akzeptiert, was in der sterblichen Welt passiert, wird nichts mehr dem Zufall überlassen … logisches Denken kann getrost über Bord geworfen werden.
Stephen King
Kapitel 1.
1880, irgendwo am Fuß der Ardennen.
Der Zug schraubte sich durch die beständig bergiger werdende Landschaft, über der sich die Rauchfahne der klobigen Dampflok nur langsam auflöste. Über grüne Wälder und farbige Felder wölbte sich ein makellos blauer Himmel bis an den Horizont.
Nach der Lok, die polternd auf den Gleisen rollte, hatte man einen Gepäckwagen und drei Passagierwaggons angekoppelt. Direkt im ersten Wagen, im vorderen Abteil, saß ein junger Mann von schätzungsweise 23 Jahren, gekleidet in einen schwarzen Anzug, und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Man hätte ihn für einen Beerdigungsunternehmer halten können, oder für einen Trauernden auf den Weg zur Beisetzung, denn er trug eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd mit einem schwarzen Jackett und, um es auf die Spitze zu treiben, eine schwarze Krawatte. Dass die Haare auch noch kohlrabenschwarz waren, krönte den optischen Eindruck.
Als ratternd die Abteiltür aufglitt, wandte der Mann seine Aufmerksamkeit vom Fenster ab, hin zum eintretenden Schaffner. Dieser war in die Uniform der Eisenbahngesellschaft gekleidet und bereits älteren Semesters, wie man an den grauen Haaren, dem grauen Bart und den Falten im Gesicht sah.
»In etwa 90 Minuten werden wir in Bastogne ankommen, Monsieur Leclerc.«
Der junge Mann nickte. »Vielen Dank. Es war eine weite Reise.«
»Sie kommen aus Paris, nicht wahr?«
»In der Tat.« Er zögerte. »Eine Frage hätte ich noch.«
»Nur zu.«
»Am Bahnhof von Bastogne wird mich eine Kutsche erwarten, die mich nach Pons-sûr-bleu bringen soll. Können Sie mir sagen, wie lange diese Fahrt dauern wird?«
»Pons-sûr-bleu? Ein ungewöhnliches Ziel haben Sie, Monsieur. Nun, da sind Sie noch einmal etwa 90 Minuten unterwegs.«
»Vielen Dank.« Mathéo Leclerc beobachtete, wie der Schaffner das Abteil verließ, und widmete sich wieder der vorbeiziehenden Landschaft.
Je näher der Zug Richtung Bastogne kam, desto mehr bewölkte sich der Himmel, bis es drohend nach Regen aussah. Als Mathéo am Bahnhof aus dem Waggon stieg, ließ ihn ein frischer Wind frösteln.
Nachdem er seinen Koffer am Gepäckwagen entgegengenommen hatte, stiefelte er vom geschützten Bahnsteig in das Bahnhofsgebäude und kam auf der anderen Seite auf einem belebten Vorplatz heraus. Suchend schaute er sich um und entdeckte zwischen den vielen Menschen ein Gefährt, das die Bezeichnung Kutsche seiner Meinung nach kaum verdiente. Das war ja ein besserer Karren! Nicht einmal überdacht! Wahrscheinlich transportierte man damit normalerweise den Mist auf die Felder!
Da sonst kein anderes Fahrzeug in Sicht war, näherte er sich dem Gespann und begutachtete die zwei braunen Pferde und den Mann auf dem Kutschbock. Dieser schien in seinem Alter zu sein, jedoch deutlich schäbiger gekleidet. Er trug eine abgewetzte weiße Leinenhose und ein grobes Baumwollhemd mit einer Juteweste. Die dunkelblonden Haare standen wirr in alle Richtungen. Mit fröhlichen blauen Augen musterte er Mathéo. »Mathéo Leclerc?«
Der Angesprochene nickte. »Du sollst mich nach Pons-sûr-bleu bringen?«
»Aber ja. Mein Vater beauftragte mich.«
»Dann ist dein Vater Dr. Thierry Aubuchon? Der mir die Briefe geschrieben hat?«
»Genau, der Dorfarzt. Ich bin Pierre.«
»Sehr erfreut«, brummte Mathéo und brachte sogar so etwas wie ein Lächeln zustande. »Ich dachte nur, dass wir vielleicht überdacht reisen.« Er blickte besorgt zum Himmel.
»So einen Luxus haben wir leider nicht.« Pierre griff auf die Ladefläche und warf Mathéo einen abgewetzten und nach Ziege riechenden Poncho mit Kapuze zu. »Hier. Zieh das einfach über, wenn es anfängt zu regnen. Du hast reichlich unkonventionelle Kleidung an.« Belustigt musterte er Mathéos Anzug.
»Unkonventionell? In der Kanzlei meines Vaters in Paris tragen das alle!«
»Tja, nur bist du hier nicht in Paris. Ich hoffe, du hast noch andere Sachen in deinem Köfferchen. Spring auf!«
Kopfschüttelnd verstaute Mathéo seinen Koffer auf dem Gefährt und kletterte neben Pierre auf den Kutschbock, wo es eng wurde. Eine weitere Sitzgelegenheit gab es allerdings nicht, und eher würde er laufen, als hinten auf der dreckigen Ladefläche des Wagens zu sitzen.
Bald hatten sie Bastogne weit zurückgelassen. Die Tiere trabten gemächlich die Schotterstraße entlang und Mathéo sah sich neugierig um. Zu beiden Seiten erhoben sich hohe Eichen.
»Das ist aber eine schöne Landschaft. Bin ich gar nicht gewöhnt.«
»Tja, in Paris sieht’s bestimmt anders aus, was?«
»Etwas, ja.«
»Wie war deine Reise?«
»Annehmbar. Es ist halt ein ziemliches Stück von Paris bis hierher. Und der Aufbruch war überstürzt. Mein Vater wollte, dass ich sofort abreise.«
Pierre nickte. »Das stimmt. Monsieur Leclerc ist erst vor vier Wochen verstorben.«
»Kanntest du ihn?«
»Ein bisschen. Er war ein Freund meines Vaters. Bei den anderen Dorfbewohnern war er eher unbeliebt. Schätze, weil er dieses schicke Chateau bewohnt hat und ...« Der junge Mann stockte.
»Und was?«
»Hm?« Pierre schaute von der Straße fragend zu Mathéo.
»Du sagtest ›und‹. Nach so einem Wort folgt für gewöhnlich eine weitere Information.« »Ach so, ja. Und er hatte auch immer so feine Sachen an, wie du. Darum solltest du in Pons-sûr-bleu besser etwas anderes tragen.«
»Mal sehen, was ich dabei habe. Nachdem mir mein Vater eröffnet hat, dass sein Bruder verstorben ist und ausgerechnet mir sein Chateau vermacht hat, musste ich sofort aufbrechen. Zum Sachenpacken blieb da wenig Zeit. Ich weiß nicht, warum ich das Erbe so überstürzt antreten soll. Und vor allem, wozu brauche ich so einen ollen Kasten? Das Ding steht von Paris viel zu weit entfernt, soll ich zwischen Belgien und Frankreich hin und her pendeln?«
»Du könntest hierbleiben. Eben sagtest du, die Landschaft gefällt dir.«
»Hier wohnen? Bei den Bauerntölpeln?« Er warf Pierre einen entschuldigenden Blick zu »Nicht böse gemeint. Aber ich arbeite in der Kanzlei meines Vaters! Vielleicht werde ich das Anwesen einfach verkaufen.«
»Wenn du meinst.«
Die ersten Regentropfen platschten auf die zwei Männer hernieder und Mathéo zog widerstrebend den Poncho über. Die Kutsche ratterte den unebenen Waldweg entlang, auf dem sich tiefe Pfützen bildeten.
»Ich hätte mir ja Zeit gelassen, das Chateau rennt ja nicht weg, doch mein Vater bestand darauf, dass ich sofort abreise.«
»Vielleicht wegen des Personals«, mutmaßte Pierre.
»Personal? Was für Personal?«
»Na, das Chateau Leclerc verfügt über Dienstpersonal«, klärte ihn der Sohn des Arztes auf.
Die Sache begann, Mathéo zu gefallen. »Echt? Wie viele denn?«
»Drei. Ein Gärtner, ein Butler und eine Haushälterin.«
»Wahnsinn. Ich hatte noch nie Dienstpersonal.« Mathéo grinste. »Das wird lustig. Möglicherweise bleibe ich doch eine Weile.«
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