»Schmeckt es?«
»Ja, danke. Hast du nichts zu tun?«
»Entdeckst du hier jemanden außer dir, der bedient werden möchte?«
»Nein.«
»Na siehst du.« Schelmisch grinste sie ihn an. Mathéo löffelte missmutig die Suppe. »Gehört dir der Laden?«
Sie ließ ein gluckerndes Lachen ertönen. »Oh nein, das wäre ja ein Ding! Ich verdiene hier nur ein paar Franc. Das Gasthaus gehört der alten Elaine Poulet!«
»Aha. Na sowas. Und du hast die Nachtschicht, oder wie?«
»So in der Art. Elaine ist in letzter Zeit nicht so oft vor Ort. Sie ist gesundheitlich etwas angeschlagen. Meist teile ich mir die Arbeitszeit mit Paulette Curie.«
»Aha.« Der Teller war leer. Mathéo schabte mit dem Löffel langsam über den Boden, um irgendetwas zu tun, außer an diesem scheußlichen Stück Brot zu knabbern. Schließlich konnte er nicht mehr leugnen, dass er fertig war, und schob den Teller von sich. »Das Brot esse ich morgen. Ich bin satt.«
»Wie du willst. Komm mit.« Lene führte ihn an der Bar vorbei eine steile Holztreppe mit knarrenden Stufen hinauf ins Obergeschoss. Dort kamen sie in einen kurzen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Sie schien willkürlich eine zu öffnen und geleitete ihn hindurch. Schwungvoll entzündete sie eine Öllampe und stellte sie auf eine Kommode. Mathéo erblickte ein kleines Zimmerchen mit Bett, einem Kleiderschrank und der besagten Kommode, über der ein halbblinder Spiegel hing. Das Bett hatte jemand mit mehrfach geflickter, weißer Leinenbettwäsche bezogen. Aber wenigstens war es sauber. Wahrscheinlich Lenes Werk.
Er nickte, einigermaßen zufrieden. Das war ja doch ganz annehmbar. »OK, wo finde ich das Bad?«
»Das was?«
Er rollte mit den Augen und seufzte. Prompt schien das Mädchen zu verstehen. Grinsend sagte sie: »Die Treppe runter und dann rechts.«
»Da ist das Bad?«
»Nein, die Tür nach draußen. Toilette und Wasserpumpe sind gleich neben dem Haus auf dem Hof.«
»Große Klasse.« Mathéo revidierte innerlich seine Meinung und nahm sich vor, so bald wie möglich ins Chateau überzusiedeln.
Mit einem belustigten »Gute Nacht« verschwand Lene aus dem Raum. Mathéo inspizierte die Tür und drehte den Schlüssel herum. Sicher war sicher, nicht dass dieses Mädchen noch hier herumschnüffelte. Dann tauschte er seine Sachen gegen einen schwarzen Schlafanzug aus Seide und kroch in das Bett.
Kapitel 3.
Mathéo hätte geschworen, gerade erst eingeschlafen zu sein, als das Hämmern an der Zimmertür einsetzte. Doch die Sonnenstrahlen, welche durch das staubige Fenster in den Raum fielen, belehrten ihn eines Besseren.
»Ja?«, brummte er muffig und setzte sich auf. War das diese Lene, oder was sollte das Gehämmer? »Steht das Gebäude in Flammen oder was?«
»Mathéo?«, erklang Pierres Stimme vom Flur. »Du solltest langsam aufstehen! In 20 Minuten haben wir den Termin mit dem Notar!«
»Mist!« Er schälte sich aus dem Bett und schlurfte zur Tür. Es war tatsächlich bereits 8:30 Uhr! Er hatte verschlafen! Dabei war er sonst ein ausgeprägter Frühaufsteher und selten nach sieben Uhr noch im Bett.
Missmutig öffnete er die Tür und Pierre drängte sich ins Zimmer. Entsetzt musterte er Mathéo. »Um Himmels willen! Zieh dich an! Wir dürfen nicht zu spät kommen!«
»Reg dich ab, der Notar wird schon warten, wenn wir nicht rechtzeitig da sind«, brummte Mathéo, während er im Koffer kramte und in einen makellosen schwarzen Anzug schlüpfte. »Ich muss mich frischmachen und frühstücken ...«
»Vergiss es! Der Notar kommt extra aus Bastogne; wenn wir nicht einigermaßen pünktlich sind, verschwindet er wieder und stellt dir den Termin in Rechnung! Beeilung!«
Nachdem er angezogen war und mit einem Kamm notdürftig seine Haare geglättet hatte, folgte er dem Sohn des Arztes ins Erdgeschoss. Von Lene oder ihrer unbekannten Kollegin war keine Spur zu sehen; der Gastraum und der Tresen lagen verlassen da.
Vor dem Gasthaus stand bereits der Karren, mit dem Pierre ihn vom Bahnhof abgeholt hatte. Die zwei Pferde stampften ungeduldig auf der Stelle.
Kaum war Mathéo umständlich auf den Kutschbock geklettert, als Pierre auch schon anfuhr. Mathéo wäre fast wieder heruntergefallen. Geradeeben konnte er sich noch festhalten. »Hättest du die Güte, etwas langsamer zu fahren?« Der Wagen polterte durch ein Schlagloch nach dem anderen. Zwar war das Wetter an diesem Morgen heiter und freundlich, die Straße aber noch vom Regen des Vortages in Mitleidenschaft gezogen. Schlamm spritzte auf und er fürchtete um seinen Anzug.
»Keine Zeit! Chateau Leclerc ist nicht eben um die Ecke, weißt du?«
»Na super! Und wie komme ich von dort ins Dorf?«
»Es gibt eine Kutsche und Pferde.«
»Ich kann weder reiten noch eine Kutsche fahren!«
»Der Butler chauffiert dich.«
»Ich dachte, der ist in Brüssel!«
»Na ja, einstweilig wirst du dir so behelfen müssen. Die sind doch bald alle wieder da!«
Pierre jagte den Karren durch den dichten Wald. Zu ihrer Rechten erhob sich ein felsiger Abhang mit verkrüppelten Bäumen. Die Gegend wurde zunehmend bergiger.
Unvermittelt brachen sie aus dem Wald. Aus dem Tal vor ihnen reckte sich ein einzelner Berg in die Höhe, auf dessen Gipfel eine Art Festung thronte. Eine steile Straße führte hinauf.
» Das ist Chateau Leclerc?«, rief Mathéo ungläubig.
»Ja, in der Tat.«
»Ich hatte mir das Schloss irgendwie schlossähnlicher vorgestellt, nicht wie eine mittelalterliche Burg!« Von ihrem Punkt am Fuße des Berges sah er einen massiven Wall aus Feldsteinen, hinter dem sich ein Turm mit spitzem Dach erhob. Der Rest der Anlage blieb bisher seinen Blicken verborgen.
»Gefällt es dir nicht?«
»Na ja ... ehrlich gesagt ...«
»Warte, bis wir dort sind!« Pierre steuerte direkt auf ein Tor in der Mauer zu. Während sie hindurchfuhren, sah Mathéo ein hölzernes Fallgitter. Das würde er dringend erneuern müssen!
Die dicke Mauer umschloss einen großen Hof, welcher von einem dreistöckigen Gebäude dominiert wurde. Dieses bildete eine U-Form, auf deren geschlossene kurze Seite sie geradewegs zuhielten. Daneben lagen kleinere Nebengebäude, die wie Ställe und dergleichen aussahen. Das wirkte schon schlossähnlicher, fand Mathéo, aber die Objekte benötigten zwingend einen frischen Anstrich. Allerdings ließen die ausladenden bunten Blumenrabatten überall auf dem Gelände alles sehr freundlich wirken. Zumindest der Gärtner schien sein Handwerk zu verstehen.
Direkt vor einer völlig überdimensionierten Freitreppe ließ Pierre die Pferde abrupt anhalten. Mathéo wurde fast vom Wagen geschleudert. Während sein neuer Freund behände absprang, kletterte er umständlich herunter und sah sich nochmals in Ruhe um. Neben ihnen parkten eine teuer aussehende geschlossene Kutsche und ein weiterer Karren, wie der, mit dem sie gekommen waren.
»Komm mit!« Pierre führte ihn die Treppe hinauf und stieß die massive zweiflügelige Eingangstür auf. Mathéo wollte den gusseisernen Türklopfer in Form eines Wolfskopfes genauer betrachten, doch er wurde unbarmherzig in eine düstere Eingangshalle gezogen.
Pierres Vater, Dr. Aubuchon, hatte scheinbar direkt dort gewartet, denn plötzlich stand er vor ihnen, einen sehr ungeduldigen Blick aufgesetzt. »Na endlich! Ihr seid spät!«
»Ich habe verschlafen und bitte vielmals um Entschuldigung«, murmelte Mathéo und sah sich in der dämmerigen Halle um. Mangels Beleuchtung konnte er nicht mehr erkennen, als eine ausladende Treppe, welche sich im rückwärtigen Teil des Raumes nach oben wand und in der Dunkelheit verschwand. Davor erspähte er ...
»Sind das etwa Ritterrüstungen?«
»Ja.« Statt näher darauf einzugehen, zerrte ihn Pierre hinter seinem Vater durch eine Flügeltür neben der Treppe. Der Saal dahinter war groß (kleine Räume gab es auf diesem Anwesen scheinbar nicht) und durch riesige Fenster hervorragend beleuchtet. Es musste sich um einen Speisesaal handeln, denn neben einem Kamin, in dem er aufrecht hätte stehen können, wurde der Saal von einem langen und sehr edel aussehenden Eichenholztisch dominiert. An der Tafel hätten mindestens 12 Leute Platz gehabt, eher mehr, doch im Moment saß dort nur einer. Es handelte sich um ein knochiges, dürres Männchen mit grauen Haaren und einer dicken Hornbrille, welche die Augen ihres Trägers riesenhaft erscheinen ließ.
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