Allzu lange würde der Wolf nicht mehr brauchen. Wenn sie ganz genau hinhörte, in den Wald hinein, dann konnte sie ihn auf seinem Rückweg bereits hören.
Ihr Blick glitt auf das Schwert in der Scheide, das er zurück gelassen hatte. Es konnte nur eine ganz bestimmte Klinge sein, daran bestand kein Zweifel. Graufeuer wurde sie genannt. Eine legendäre Waffe, die sich während des Gestaltenwandelns mit dem Träger verformte und über die Klaue legte, mit der sie zuvor mit der Hand am Griff gehalten wurde. In der ganzen Welt gab es nur noch sehr wenige Artefakte dieser Art. Auf magische Weise geschmiedet und aus reinem Silber bestehend sorgte sie für besonders schwere Verletzungen bei Dämonen, Gefallenen und konnte selbst manifest gewordenen Geistern enormen Schaden zufügen. So mächtig sie auch war, sie hatte ihren Preis: auch Werwesen und somit auch der Träger selbst reagierten bei bloßer Berührung mit ihrer Schwäche auf das Edelmetall. Verbrennungen und Schmerzen waren daher immer die Folge, wenn sie transformiert geführt wurde. Der Geächtete konnte aber offenbar gut damit umgehen, ertrug, was er ertragen musste und nutzte stets seinen besonderen Vorteil damit im Kampf. Umso mehr fragte sie sich aber, wie er an Graufeuer gekommen war, wer sie einem Geächteten überlassen hatte. Ihr vorangegangener Träger galt als verschollen, vielleicht sogar tot. Auch die besondere Bekleidung, die in der Metamorphose mit der Haut verschmolz anstatt zu zerreißen, konnte nur eine Matrone genäht haben. Der Werwolf war dereinst nackt und ohne Habe vertrieben worden. Welche Gnade von welch seltsamen Verbündeten war ihm da nur zuteil geworden in all den Jahren seines Exils?
Und da war noch dieser Beutel, dieser schwere, mysteriöse Lederbeutel, den er stets bei sich trug und nur ganz selten ablegte. So wie jetzt, stand da einfach neben dem Schwert, angelehnt zur Felswand. Nie hatte er ihn aufgezurrt, ließ ihn immer gänzlich verschlossen. Mit keinem Wort hatte der Werwolf bisher erwähnt, was er darin so gewissenhaft mit sich geschleppt hatte in der ganzen Zeit. Noch hatte sie ihn nicht direkt darauf angesprochen, auch weil, und dies konnte nur ein Zauber sein, er so unscheinbar wirkte, dass man ihn kaum beachtete oder überhaupt leicht vergaß, dass er präsent war, selbst wenn sich dieser in direktem Blickfeld befand. Zugleich sagte ihr aber in diesem Moment irgendetwas, dass sie ohnehin in naher Zukunft erfahren würde, was der Inhalt sei und warum ausgerechnet er ihn bei sich hatte.
Sie wagte eine Berührung des Leders. Sie spürte eine seltsame Kraft, die sehr, sehr alt sein musste. Weiße Runen glühten an der braunen Oberfläche kurz auf. Siegel des Schutzes. Hastig zog sie die Hand wieder zurück. So blieb nur die Frage, ob das Geheimnis im Beutel vor der Welt beschützt werden musste oder umgekehrt.
Da trat der Geächtete in Wolfsgestalt aus dem Wald. Maul und Schädel blutverschmiert. Er hatte erfolgreich gejagt, aber dieses Mal nur zum Fressen. In diesem Wald wird es wohl ein Reh gewesen sein, oder ein Eber. Oder beides, denn Verwandeln und Zaubern kostete den Werkriegern viel an Kraft, die mit Fleisch wieder gewonnen werden konnte. Natürlich hatte kein Wildtier eine Chance gegen einen Werwolf. Es war die bloße Lust an der Hatz und der reine Hunger, die sie so leichte Beute machen ließ.
Einen toten Hasen trug er am Genick im Maul. Er trottete langsam auf Sanara zu und legte diesen behutsam vor sie hin auf den Boden. Sie nickte im Dank. Dann wand er sich um, stellte sich gegenüber von ihr hinter das Lagerfeuer, senkte den Kopf, schloss die Augen und verwandelte sich langsam. Schließlich war da ein großer, kräftiger Mann in schwarzer Kluft, der ohne Schuhe und mit glattem Haar auf allen Vieren am Boden ruhte. Die meisten der grauen Strähnen waren verschwunden, so fiel ihr gerade auf. Er sah besser aus, war besser in Form und er bewegte sich geschmeidiger. Das Gebrochene, das Verlorene, das in seinem Wesen gelegen hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, fiel langsam aber immer merklicher von ihm ab. Er gefiel ihr besser.
Er richtete sich empor und setzte sich. Im ganzen Gesicht klebte noch immer das Blut.
„Das war eine gute Jagd“, so sprach er mit einer im Ansatz knurrenden Stimme. „Das Getier hat sich mir gerne und schnell ergeben.“
Sie nahm den Hasen, streichelte den schlaff herab hängenden Kopf mit flüsternden Dank, küsste ihn. Dann zückte sie ein Messer und begann ihn zu häuten und auszuweiden. Sie mochte ihr Essen gerne gebraten. Interessiert beobachtete er sie. Gekochtes hatte er seit sehr langer Zeit nicht mehr zu sich genommen.
Sie hielt den Stock, auf dem der Hase aufgespießt, über das Feuer. Nicht mehr lange, dann konnte sie ihn mit einigen Gewürzen genießen. Es roch gut, dies bemerkte auch der Werwolf mit feiner Nase, die in dieser Gestalt ein nur wenig schlechteres Sinnesorgan war als in gewandelter Form.
Erst nach einer Weile fiel ihm ein, dass sein Gesicht noch immer eine rote Fratze sein musste. Manchmal vergaß er solche Dinge, vor allem da er nun schon länger ohne Gesellschaft war, schon gar keiner Weiblichen. Die äußerliche Vernachlässigung war ihm zu seiner Überraschung gerade sogar ein wenig peinlich.
Ihr war es natürlich aufgefallen, aber sie befand es als zu nichtig, ihn darauf hinzuweisen. Er ging zum Fluss und wusch sich.
Wieder verbrachten beide lange Zeit im gemeinsamen Schweigen, nicht nur, weil sie beide trotz einer gewissen, zunehmenden Neugier ein Maß an Distanz wahren wollten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, sondern ebenso, weil sie es mochten, nur der Natur um sie herum zu lauschen und den ewigen Gesang Ardas darin erkennend, nicht mit wertlosem Geschwätz wie jenem von stumpfsinnigen Menschen zu stören. Die Andacht vor der Natur war in allen Dingen heilig.
Er hatte natürlich Sanaras fragenden Blick auf den Beutel längst bemerkt. Den Zauber durchschaute sie also bereits. Er schätzte sie dafür, dass sie noch immer keine aufdringliche Neugier bezogen darauf - aber ebenso in anderer Hinsicht - wagte, auch wenn sie es natürlich verdient hatte, seine Belange ob des Inhalts zu erfahren. Und da es erneut darum ging, wieder nicht den direkten Weg zum Wald der Welt zu beschreiten, musste er von sich aus nun die Aussprache suchen. So begann er: „Schwester, ich muss euch wissen lassen, dass wir auf unserer Reise gen Westen noch die Stadt Hark aufzusuchen haben.“
Der böse Blick von ihr folgte sofort.
Er sprach weiter im beschwichtigenden Tonfall: „Ja, ich bitte euch erneut, abseits des kürzest möglichen Pfades zu schreiten. Der Inhalt des Beutels hat diejenigen übergeben zu werden, für die er bestimmt ist. Damit wird eine überaus wichtige Aufgabe erfüllt, die ich vor zwei Monaten annahm.“
Sie sah ihn weiter mit aller Strenge an. Dann ein Seufzen mit einem unüberhörbaren, verärgerten Unterton. Vorerst ging sie mit keinem Wort auf ihn ein. Sie begann das heiße, knusprige Fleisch mit einem Messer von den Knochen zu lösen, es in eine kleine Tonschale zu tun. Sie aß mit den Fingern, es schmeckte, wie deutliches Schmatzen verriet.
Der Geächtete war ein wenig amüsiert von ihrer bewussten und deutlich zur Schau gestellten Ignoranz seiner Worte. Natürlich würde er wieder ohnehin so handeln, wie er in dieser Sache handeln musste. Hark war ein gutes Stück im Nordwesten, aber mehr als zwei Reisetage würden sie nicht verlieren, wenn es gut vorangehen sollte.
„Ein einfacher Botengang also“, sagte sie schließlich etwas verächtlich, nachdem sie sich am letzten Schenkel gelabt hatte, „Ihr habt etwas Geheimnisvolles abzuliefern, das ihr zuvor an einem geheimnisvollen Ort geraubt habt, wie ich vermute, für irgendwelche geheimnisvollen Herren, wie ich mir denke. Sagt doch, werter Geächteter, was ich davon halten soll, dass ihr euch erneut mir, meinem Gebot, was vielmehr das Gebot eures Gottes ist, widersetzen wollt?“
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