Christian Futscher
Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur und des Landes Vorarlberg
Futscher, Christian: Mein Vater, der Vogel / Christian Futscher
Wien: Czernin Verlag 2021
ISBN: 978-3-7076-0728-4
© 2021 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Florian Huber
Autorenfoto: Katharina R.-Fröschl
Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl
ISBN Print: 978-3-7076-0728-4
ISBN E-Book: 978-3-7076-0729-1
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Für Philipp
Irgendwann habe ich begonnen, die Erinnerungen an meinen Vater aufzuschreiben. Ich war überrascht, wie viel mir eingefallen ist.
Manches weiß ich nur aus Erzählungen meiner Mutter und seiner Freundinnen und Freunde, einiges hat er mir selbst erzählt.
Leider kann ich ihn nichts mehr fragen.
Manche der Geschichten oder Streiche meines Vaters sind aus einer Zeit, als ich noch recht klein war, andere aus einer Zeit, als ich schon erwachsen war.
An manches kann ich mich sehr gut erinnern, an anderes nur undeutlich.
Die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse stimmt nicht immer, aber das ist nicht so wichtig, finde ich.
Viele seiner Geschichten sind wahrscheinlich für immer verloren.
Ich erinnere mich gern an meinen Vater, der eines Tages einfach fortgeflogen ist…
Der Vogel Der Vogel Es war an meinem zehnten oder elften Geburtstag, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier, die in einem Garten stattfand, auf einen Baum kletterte. Als er oben war, rief er: »Ich bin ein Vogel!« Dann begann er zu pfeifen und zu zwitschern. Meine Freunde fanden das lustig, ich nicht. Mein Vater bewegte die Arme, als ob sie Flügel wären. Dabei fiel er fast vom Baum. Meine Freunde lachten, ich nicht. »Komm sofort herunter!«, rief ich. Als er endlich wieder unten war, sagte ich: »Wenn du noch einmal lustig bist, dann bringe ich mich um.« Er hat nicht aufgehört, lustig zu sein. Und ich lebe immer noch.
Die Fliege Die Fliege Mein Vater erzählte mir einmal, dass er als Jugendlicher in einer Sommernacht mit zwei Freunden auf einen Baum geklettert sei, um eine Flasche Wein zu trinken. Der Baum stand auf dem Grundstück eines alten Mannes. Als mein Vater und seine Freunde es gerade besonders lustig hatten, hörten sie eine laute Stimme rufen: »Runter vom Baum oder es passiert was!« Die Freunde erschraken. Der alte Mann stand am Fenster und wiederholte: »Runter vom Baum«, und jetzt fügte er hinzu, »oder ich hole mein Gewehr!« Als die drei Freunde das hörten, mussten sie lachen, aber der Mann meinte es ernst. »Ich schieße euch runter vom Baum!«, rief er wütend und verschwand. Als er kurz darauf mit einem Gewehr in der Hand am Fenster auftauchte, verging den Freunden das Lachen und sie »machten eine Fliege«, wie mein Vater sagte.
Die Katze Die Katze Mein Vater lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und hatte die Augen geschlossen. Er lag auf dem Rücken und auf seiner Brust lag Billie, unsere Katze. Als ich ins Zimmer kam, wandten mir die beiden ihre Gesichter zu. Das war ein lustiger Anblick: das große und das kleine Gesicht, die mich fragend ansahen. Mir fiel ein, wie er sich ganz am Anfang, als wir Billie bekommen hatten, einmal lautstark über sie beschwerte: »Die spinnt! Zuerst schleckt sie sich den Hintern ab und dann will sie mit mir schmusen!« Es dauerte eine Zeit lang, bis er Billie akzeptierte, aber dann konnte er nicht genug bekommen von ihr, auch wenn er sie manchmal als »Stinktier«, »faulen Hund« oder »gemeine Vogelmörderin!« bezeichnete. Einmal sagte er zu mir: »Du darfst nie vergessen: Wenn wir so klein wie Mäuse wären, würde Billie uns fressen!«
Das Fahrrad Das Fahrrad Alle meine Freunde hatten Eltern, die ein Auto besaßen, manche sogar zwei davon. Meine Mutter besaß nicht einmal einen Führerschein. Den hatte mein Vater zwar irgendwann in seiner Jugend gemacht, aber er hat nie ein eigenes Auto besessen. Manchmal hat er sich eines ausgeliehen. Mein Vater besaß nur ein Fahrrad und oft nicht einmal das, weil ihm immer wieder eines gestohlen wurde. Als ihm das dritte Fahrrad gestohlen worden war, sagte er zum Fahrradhändler: »Ich hätte gerne eines, das mir nicht gestohlen wird.« Der Händler führte ihn zu einem Fahrrad im hintersten Winkel des Verkaufsraumes, zeigte mit dem Finger darauf und sagte: »Das hier stiehlt Ihnen bestimmt niemand!« Das Fahrrad, das dort in der Ecke stand, war nicht nur uralt, sondern schrottreif und billig. »Ausgezeichnet!«, rief mein Vater und kaufte das Fahrrad, auf dem großspurig stand: Toscana Sport de Luxe . Mit Luxus hatte der billige Drahtesel gar nichts zu tun, aber mein Vater war begeistert. Er meinte, das gute Stück sehe so ähnlich aus wie das Fahrrad, das er als Kind gehabt hatte. Meiner Meinung nach sah es nur alt und schäbig aus, außerdem machte es scheppernde Geräusche, die irgendwie ungesund klangen – in meinen Augen und Ohren war es ein krankes Fahrrad, kurz vor dem Abkratzen. Noch ein paar Worte über dieses »Prachtexemplar«: Es war rostig und hatte kein Licht, nicht einmal eine Rückblende. Der Ständer war abgebrochen, er war nur noch ein Stummelständer. Wollte mein Vater das Fahrrad abstellen, musste er es irgendwo anlehnen. Oft lag es am Boden, wenn er zurückkam. Einmal glaubte er, sein Fahrrad sei schon wieder gestohlen worden, das geliebte Toscana Sport de Luxe , an dem er wirklich sehr hing. Er war fest davon überzeugt, dass er es vor dem Haus bei einem Verkehrszeichen angekettet hatte, jetzt war es weg. Das war im Herbst. Im Frühjahr fand er es wieder. Es stand zwischen anderen Fahrrädern in der Nähe der U-Bahn-Station, die er oft benützte, und war angekettet. Nur sah es jetzt nach dem langen Winter noch schäbiger aus. Kein Mensch war auf die Idee gekommen, es zu stehlen.
Einkaufen Einkaufen Meine Mutter wollte etwas Bestimmtes kochen, aber dafür fehlten ihr zwei Zutaten. Sie sagte zu meinem Vater: »Könntest du mir bitte Petersilie und Sauerrahm besorgen!« Bevor er die Wohnung verließ, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach: »Brauchst du wirklich nichts anderes, nur Schnittlauch und Schlagrahm?«
Reisen Reisen Einmal klebte mein Vater einen großen Zettel an die Schlafzimmertür … Ich wusste, dass er sich am Morgen, kaum hatten meine Mutter und ich die Wohnung verlassen, gern wieder ins Bett legte. Meine Mutter ging zur Arbeit, ich zur Schule. Ich habe Vater oft darum beneidet, dass er zu Hause bleiben konnte. Vom Frühling bis in den Herbst arbeitete er als Kellner, im Winter hatte er monatelang frei, das heißt, er war arbeitslos. Er hatte nur wenig Geld, dafür viel Zeit. Ich weiß nicht, wie oft ich von ihm den Spruch gehört habe: »Zeit ist mir wichtiger als Geld.« Meine Mutter hätte gern öfter Urlaub gemacht, sie liebte es, zu verreisen, aber mein Vater wollte nie so recht. »Ich bin kein Urlauber!«, sagte er immer wieder. »Jedesmal, wenn ich dich zu einem Urlaub überreden konnte, hat es dir sehr gut gefallen«, erinnerte ihn meine Mutter manchmal an vergangene Urlaube. Aber er blieb dabei, er sei kein Urlauber. Auf dem Zettel an der Schlafzimmertür meiner Eltern stand: Den Narren packt die Reisewut , indes im Bett der Weise ruht .
Der Schiedsrichter
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