Hannah Hohmann
Mein Vater war anders
Kindheitserinnerungen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Hannah Hohmann Mein Vater war anders Kindheitserinnerungen Dieses ebook wurde erstellt bei
Meine andere Kindheit
Erinnerungen an Italien
Die ersten Schuljahre
Verstreut in alle Winde
Verlust der Geborgenheit
Jetzt ist alles anders
Frühe Jugend
Immer wieder Italien
Die Zeit der Wandergruppe
Die letzten Versuche
Besuch aus Korea
Angekommen im Internat
Nachwort
Impressum neobooks
Eigentlich hätte ich ein »Thomas« werden sollen, aber ich wurde Hannah. Also doch nicht die Reinkarnation des ersten und wichtigsten Geliebten meines Vaters Papasan. Dieser erhielt seinen Namen in Südostasien, wo er im letzten Drittel seines Lebens lebte und wirkte. »Papasan« heißt sinngemäß »Herr Papa«, und ich werde ihn hier durchgängig so nennen.
Ich bin im Januar 1950 in Heidelberg geboren. Meine Mutter war bei meiner Geburt 42 Jahre alt. Ich war das fünfte Kind, eine Totgeburt nicht mitgerechnet. Mutti hatte bei der Geburt der Schwesterzwillinge 1942 eine Schwangerschaftsvergiftung erlitten. Und es war von einer weiteren Schwangerschaft dringend abgeraten worden, weil ihre Gesundheit massiv bedroht gewesen wäre. Aber ich sollte zur Welt kommen.
Bis zu meinem 60. Geburtstag war ich der Überzeugung, dass sich diese schöne Geschichte zugetragen hatte:
Mutti hatte die dringende Empfehlung und auch die offizielle Genehmigung zu einer medizinisch begründeten Abtreibung erhalten. Im Wartezimmer in Heidelberg saß sie, der Eingriff sollte demnächst erfolgen. Sie ist aber vorher aufgestanden und einfach gegangen. Und hat ihren vier »Großen« ein Geschenk gekauft, jedem ein winziges aus Leder gefertigtes Tierchen. Das meines Bruders Wolfgang, immer Wiff genannt, war ein Häschen, braun und mit Steppnaht. Ich habe es gesehen. Und Mutti ist damals nach Hause gegangen und hat mich im Januar darauf zur Welt gebracht, ohne große Komplikationen, und ich war ein gesundes Kind. Überraschend nur, dass ich eben kein »Thomas« war.
59 Jahre später, kurz nach dem Tod meines Bruders Wiff, fand meine Schwägerin Usha Unterlagen, aus denen hervorging, dass es damals anders gewesen war:
Die Eltern hatten sich schweren Herzens wegen der Armut in der Nachkriegszeit und der medizinischen Vorgeschichte meiner Mutter zu einer Abtreibung entschlossen. Ein Heidelberger Gynäkologie-Professor überredete sie jedoch mit moralisch-ethischen Argumenten, die Schwangerschaft und Geburt trotz allem zu riskieren.
Als ich gesund auf der Welt war, trugen die Eltern eben diesem Arzt aus Dankbarkeit die Patenschaft an, denn er hatte sie ja zu diesem gewaltigen Schritt überredet. Zu dieser Patenschaft kam es allerdings nicht. Aber meine Taufe fand durch meinen Großvater väterlicherseits statt, den Pfarrer Opa Jonathan aus Kassel-Bettenhausen. Ich habe keine deutliche Erinnerung an ihn, nur ein paar Fotos zeigen ein Gesicht mit Spitzbart und einem tiefernsten Ausdruck. Der evangelische Geistliche hatte zehn Kinder, Papasan war das zweitjüngste. Es gab neun Söhne und eine Tochter – Tante Lena. Opa Jonathan beerdigte früh seine Frau – Wilhelmine – die Mutter der Zehn. Sie starb im Alter von 42 Jahren an Herzschwäche und die neue Oma Hedwig zog die noch recht kleinen Kinder groß. Im ersten und im zweiten Weltkrieg starben drei der Söhne, Opa Jonathan in Kassel im Jahr 1953. Drei Jahre vor seinem Tod war also meine Taufe.
Papasan hatte nach dem Krieg den Peterhof in Ziegelhausen – einem Vorort von Heidelberg – als Pächter anvertraut bekommen. Mit seinem stets ausgeprägten Charisma hatte er das Vertrauen der Besitzerin – von allen nur die »Baronin« genannt – gewinnen können. Er, der Diplom-Ingenieur, hatte überzeugend dargelegt und bewiesen, dass er der ideale Bewirtschafter des großen Hofes sein würde.
Die vier »Großen« – meine Geschwister – erzählten später ausführlich von armen, aber heiteren, harmonischen Kindheitszeiten: Zusammen spielen in der Natur, bestimmt auch im Haushalt und auf dem Obstgut mithelfen, bestimmten ihren Alltag. Die vier Kinder lebten unter großen äußerlichen Entbehrungen, aber in fröhlicher Gemeinschaft und jederzeit reich an Musik, Theater und Spielen.
Irgendwann war vom Vater jedem Kind ein Verslein zugeschrieben worden. Sie konnten es bis in ihr Erwachsenen-Alter hinein auswendig hersagen. Und es hatte wundersamer Weise mit ihrem sich entfaltenden Wesen zu tun. Das von Schwester Eleni begann so: „ Ich bin der kecke Löwenzahn, an jedem Fleckchen wachs ich an. “
Unsere Mutti hat die Familie damals mit Holzbirnen ernährt, und zwar in jeder denkbaren Zubereitungsart.
Befreundet war die Familie, in die ich hineingeboren wurde, mit der Familie F. Diese wohnte in der »Mühle«. War der Vater Müller? Oder Seifensieder? Vielleicht ein Farbenhändler? Auf jeden Fall gab es zehn Kinder und auch dort große Nachkriegsarmut. Aber auch sie erlebten heitere Erfüllung durch Hausmusik, Gedichte und Theateraufführungen. Erste Kontakte mit der Anthroposophie und der gerade in Heidelberg entstehenden Waldorfschulgründung verbanden beide Familien.
Und eine frische Liebe unseres Vaters zu Heiner. Und später zu Karl, beides Söhne der Familie F. Der jüngere wurde, damals etwa 16-jährig, zu meinem Paten ernannt. Jahrzehnte später wurde mir klar, warum ich diesen Patenonkel unsympathisch und immer auch ein wenig eklig fand. Ich versuchte später wiederholt, das zu erfassen und mit dem dann älter gewordenen Mann, der Lehrer geworden war, zu besprechen und aufzulösen. Das ist aber leider nicht geglückt.
Meine Taufe aber war wohl ein gelungenes Fest. Eine begnadete Märchendichterin im Umfeld der Familie – eine Frau K. – hatte aus dem Märchen ‘Dornröschen’ ein Theaterstück geschrieben. Das Dornröschen im Körbchen war ich mit meinen wenigen Lebensmonaten. Und die guten Feen waren auch zugegen. Die Größen der beiden Familien mit zehn und fünf Kindern gaben das mühelos her. Die böse, 13. Fee, war auch dabei. Da war also schon einiges in die Wiege gelegt.
Vom Peterhof zog die Familie nicht direkt nach Hannover. In Bielefeld wurde 1951 zunächst Station gemacht. Es gab Arbeit für Papasan bei den Stadtwerken und die Familie wohnte in der Herforder Straße. Für Erinnerungen war ich allerdings noch zu klein.
Aber nach einem knappen Jahr in Bielefeld ging es nach Hannover in die Heinrich-Heine-Straße. Und von dort gibt es auch Bilder. Es muss sehr eng gewesen sein für die siebenköpfige Familie. Eigentlich war eine 5-Zimmer-Wohnung von Bielefeld aus organisiert worden. In den Stunden, in denen der Hausrat nach Hannover gebracht wurde, zog jedoch eine andere Familie in die für uns vorgesehene Wohnung ein. Ohne Bürokratie, blitzschnell, wie es in der damaligen Zeit der Wohnungsnot bestimmt häufig einfach nur so gemacht wurde. In Hannover angekommen fanden meine Eltern und Geschwister nur noch eine 2-Zimmer-Wohnung vor und bezogen notgedrungen dieses Quartier, wenn auch recht eng für das »Siebengestirn«.
Papasan und Mutti hatten in Heidelberg ja bereits die Anthroposophie kennengelernt und eine intensive Phase der Vertiefung in dieses Gedankengut hatte begonnen. Im platonischen Weltbild der Griechischen Antike spielten die sieben sichtbaren Planeten eine große Rolle, wie auch ihre Verbindung mit den Wochentagen, mit Pflanzen und Metallen. Was lag da näher, als die Mitglieder der Familie einzuteilen?
Der »uralte, bleischwere Saturn«. So hat sich der Vater, mit dem Älterwerden kokettierend, oft genannt.
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