Ihr milder Zorn hatte etwas reizvolles für ihn. Sie hingegen war im Grunde einfach nur verärgert. Elender, undankbarer, sturköpfiger Bastard, so dachte sie. Aber, und dies wollte sie sich selbst noch nicht so recht eingestehen, eine leise Lust an mehr Abenteuer stieg zunehmend in ihr hoch. Ein so geheimnisvoller Inhalt im Beutel konnte nur interessante Geschehnisse nach sich ziehen.
„Ich tue, was ich tun muss, genau wie ihr“, antwortete er, „Es geht um Dinge, die lange vor unserer Begegnung beschlossen wurden, die wichtig sind und Erfüllung verlangen. Ich widersetze mich weder meinem Gott noch euch. Mehr Zeit und ein kurzer Umweg ist alles, was ich verlange.“
Sanara sagte darauf nur knapp: „Gebt mir gute Gründe. Fangt mit Inhalt an.“
„Ihr verdient die ganze Geschichte, natürlich“, sagte er, „Aber über den gehüteten Inhalt des Beutels darf ich erst sprechen, wenn er euch gezeigt wird, falls er euch gezeigt wird.“
Die bedeutungsvolle Pause, die folgte, war in ihrer Länge übertrieben, aber er war nicht der beste Erzähler und Gesprächspartner. Sie musste wieder ziemlich deutlich Seufzen, ehe er in der Annahme ihres deutlichen Interesses fortsetzte.
„Vor vier Monaten hatte ich bereits das dritte Untier aus dem Rudel der Gefallenen zur Strecke gebracht. Ich war mir sicher, meine rasende Jagd bald schon zu Ende zu führen und endlich meine Rache gänzlich gestillt zu haben. Aber Yarech Schattenschwinge und sein letzter Lakai flohen in den Berg Niarom, wo sie mich im unterirdischen Labyrinth abhängen konnten. Nur knapp entrann ich den finsteren Wesen, die mir dort auflauerten. Die Spur der Gefallenen war somit verloren. Als ich wieder an die Oberfläche gelangte, zeigte sich mir ein Werkrieger das Klans Nachtkatze.“
Dies überraschte sie allerdings, sehr sogar. Die Nachtkatzen waren seit der Zeit des Falschen Zorns nicht mehr Teil des Wilden Heeres. Sie hatten das Exil gewählt und die Städte der Menschen zu ihren neuen Domänen ausgerufen, wo sie seither unbehelligt und zurückgezogen lebten. Es war wahrlich eine schreckliche Tragödie, die vor vielen Jahrzehnten passierte, als durch eine Täuschung des Einen Feindes alle anderen Klans die Nachtkatzen für durch die Verderbnis befleckt hielten und nach ihrer vollkommenen Auslöschung trachteten. Als der Irrtum endlich erkannt wurde, war es längst zu spät. Keine Werkatze war seit diesen grimmen Tagen jemals direkt an irgendeinen anderen Klan heran getreten, schon gar nicht an einen Werwolf und noch dazu einen Geächteten.
Sanara sprach sodann: „Fängt ihr jetzt an, mir doch Lügen aufzutischen? Was sollten die abgekehrten Kinder des Allvaters ausgerechnet von euch wollen, von einem ausgestoßenen und einsamen Wolf?“
Er setzte fort mit der Geschichte: „Glaubt mir, ich war nicht wenig überrascht, aber es sollte sich bald herausstellen, dass ich der einzig Richtige für sie war. Offenbar hatten sie von mir gehört, waren mir gefolgt. Sie boten mir Hilfe an, würden die entflohenen Gefallenen für mich finden, sie für eine Weile für mich aufhalten und ewig in meiner Schuld stehen, wenn ich für sie weit gen Süden ziehen würde um in der Wüste von Al Saidun eine geheime Tempelstätte aufzusuchen. Die Werlöwen bewahrten dort etwas auf, das den Nachtkatzen seit jeher gehörte, aber in der Zeit des Falschen Zorns entwendet wurde. Ich sollte ihr Dieb sein. Ich bin von keinem Klan mehr, abgeschnitten vom Geisterreich kann meine Spur von dort aus schwer verfolgt werden. Außerdem bin ich entbehrlich, für sie, auch wenn mir dies der abgewandte Bruder nicht offen gesagt hatte. Sollte ich scheitern und unter der Klaue der Löwen fallen, so gäbe es keine Spur zu den Werkatzen und ein Geächteter war kein Teil mehr des Wilden Heeres, also würde niemand der Wilden Krieger und Götter angeklagt werden können für das Handeln eines Einzelnen außerhalb der eigenen Reihen. Ich wurde also zu ihrem Dieb, bekam den Beutel zur Aufbewahrung. Natürlich traute ich ihnen nicht ganz, aber mir erschien es sonst unmöglich, die Gefallenen schnell genug wieder zu finden und ohnehin konnte ich in meiner Lage einen jeden Verbündeten brauchen. Schwach glimmte in mir auch die Hoffnung, dass die Werkatzen, die ja besonders verbunden sind mit dem Geisterreich und viel mehr Pfade und Wesenheiten dort kennen als alle anderen, vielleicht eine Möglichkeit finden könnten um mir wieder einen Zugang in den Weltschatten zu verschaffen.
Wie auch immer, ich war erfolgreich bei meiner Mission. Unbemerkt drang ich ein und entkam den Verfolgern, beides zu einfach. Klan Löwe hat mich enttäuscht. Ihr mächtiges Brüllen ist offenbar auch ein mächtiges Prahlen. Ich kehrte aus der Wüste von Al Saidun mit dem zurück, wonach es den Nachkatzen verlangte. Und dies ist jetzt nun in diesem Beutel da. Und ich muss ihn in Hark übergeben.“
Sanara hatte aufmerksam zugehört. Sie dachte über seine Worte nach. Wieder beeindruckte sie der Werwolf ein wenig, auch wenn weder seine Motive noch seine Tat von besonderer Ehre geprägt waren. Für sein höheres Ziel die Gefallenen zur Strecke zu bringen bestahl er sogar einen Klan seiner Brüder aus dem Süden. Aber vielleicht hatten die Werkatzen tatsächlich ein Anrecht auf das Entwendete. Löwe und Nachtkatze hatten immer ihre Dispute und Auseinandersetzungen, die in der Zeit des Falschen Zorns dazu führten, dass die Wüstenkönige ihre nördlichen Verwandten mit besonderer Effizienz und Grausamkeit zur Strecke gebracht hatten. Es war bekannt, dass fast alle Kultstätten und Horte der Nachtkatzen zerstört und oft genug zuvor ausgeraubt worden waren. Den Inhalt des Beutels wollten sie wohl schon sehr lange wieder und sich an einen Geächteten dafür zu wenden, deutete vielleicht auf eine gewisse Verzweiflung hin, denn sie würden es bestimmt bereits zuvor auf andere Weise versucht haben. Diplomatie wäre zwischen den Klans undenkbar gewesen, nicht zuletzt weil die Werkatzen sich eben längst von der Gemeinschaft der Krieger abgewendet hatten. Zudem hatten die Gestaltenwandler des Nordens mit denen aus dem Süden wenig zu schaffen in diesen Tagen. Leider war der Bund zwischen allen Klans längst nicht mehr so stark wie dereinst, wo doch gerade jetzt, wo Krieg und Wiederkehr des Einen Feindes drohte, das Wilde Heer und die Wilden Götter geeinter denn je sein müssten.
Da wurde die Matrone von großer Neugier gepackt und sie spürte umso mehr eine leichte Erregung ob dieser neuen abenteuerlichen Wendung. Ja, sie hatte ihren Auftrag und ja, sie war nach wie vor verärgert über den steten Eigensinn des sturen Werwolfs, der offenbar immer wieder in alle anderen Richtungen abbiegen wollte um nur ja nicht den direktesten Weg in Heimat zu Gott und Klan beschreiten zu müssen. Sanara aber verspürte schon seit frühen Jugendtagen eine gewisse Sehnsucht, die sie in alle Winkel der Welt mit all ihren Geheimnissen, Wundern und Gefahren trieb. Werkatzen. Sie war noch keiner begegnet, hatte immer nur Geschichten über sie gehört. Es war stets ein mysteriöser und schließlich vergessenen Klan gewesen. Wie sie wohl aussahen? Wie sie wohl in einer Stadt lebten? Und der Inhalt des Beutels würde ihr gewiss auch offenbart. Welches Artefakt aus alter Zeit es auch immer war, sie wollte sehr gerne erfahren, worum es sich tatsächlich handelte. Die Matronen sollten ohnehin davon wissen, wenn es machtvoll war oder gar Einfluss auf die Geschicke in der Welt hätte. Ihre gelegentliche Schwächen, der widerständige Ungehorsam und übertriebene Abenteuerlust verbunden mit Neugier, kamen damit doch wieder hoch und sie fand wenig überraschend wieder reichlich an Rechtfertigung.
Aber selbst wenn sie sich einredete, dass sie im Grunde den Befehl von Gava Meduna nicht missachtete, es war ja nur ein geringer Zeitaufschub. Sanara fiel auf, dass sie gerade der Argumentation des Geächteten folgte, was bei ihr einen Moment innerer Verärgerung auslöste. Zwei Tage mehr für die Reise bedeutete in jedem Fall zwei Tage mehr, in denen es gefährlich werden konnte. Die Werkatzen würden es kaum wagen, ihnen etwas anzutun und sie waren weder als falsch noch als feindlich bekannt, aber man weiß ja nie. Mehr noch aber machte sie sich Sorgen über die Nähe zu den Menschen. Die Stadt Hark war keine Hochburg der Kirche und nicht so groß wie die dampfenden Metropolen in den Zentren der Imperien, aber gewisslich kein sicheres Pflaster für eine Matrone und einen Werwolf, die noch dazu schnell auffallen konnten.
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