Damit sollte zukünftig Schluss sein!
Auch Beschlüsse hatten hierzulande selbstverständlich Konsequenzen, brauchten allerdings so ihre Zeit. Dennoch sollten wir diesen aufbauenden Traum live miterleben, wohlbehütet in Hausgemeinschaften wohnend, mit einer Art Blockwart. Dazu gab es Warmwasser aus der Wand und Fernwärme aus dem Heizwerk, dessen Schornstein wir am nördlichen Horizont rauchen sahen wie ein Fanal. Es sei denn, es gab nichts zu heizen, weil die Weichen vereist oder ein Rohr geplatzt war wie so mancher Traum hienieden. Aber das kam seltener vor, alles war schließlich ziemlich neu. Von wegen: Wir hatten ja nichts. Im Gegenteil, es gab nicht wenige, die voller Überzeugung tönten: Was will man mehr!
Ein beträchtlicher Teil der hiesigen Bevölkerung hing also ihrer Illusion vom Paradies auf Erden eine ganze Weile nach. Und sei es dank Nachhilfe! Man siedelte Forschung und Industrie an. Vermutlich, um ein paar Intellektuelle mit uns Einheimischen zu kreuzen. Vielleicht sollte daraus ja der neue Mensch entstehen, von dem in jenen Zeiten so viel palavert wurde.
Auf einmal hörte ich Sächsisch und Anhaltinisch, oder Thüringisch und Berlinerisch, in der Turmstraße, dem Boulevard der Stadt, wie man in anderen Weltstädten Hindi, Persisch und Afrikaans auf den Straßen und Plätzen vernahm.
Vor allem redeten die Zugereisten ständig und überall. Manchmal dachte ich, so viele Worte gibt´s doch gar nicht. Auch in unserer Klasse begrüßten wir skeptisch, aber oktroyiert optimistisch, im Namen des gesamten Klassenkollektivs, zwei Neuankömmlinge aus Thüringen und machten uns in den ersten Wochen wie phonetische Spürhunde im Namen des Dudens über ihren Dialekt her. Irgendwann ließen wir sie in Ruhe, oder gewöhnten uns einfach nur an ihre sprachlichen Marotten.
Unterdessen zerrte die Stadt an ihren Grenzen. Wir ließen sie einstweilen gewähren. Die Pläne wechselten ohnehin schneller als die Ausführenden. Das einst üppige Modell der neuen Satellitenstadtteile war eben nur ein Entwurf und wurde nicht 1:1 Realität. Auch wenn sich anfangs durchaus einiges tat. Nachdem etwa am Stadtwall etwas mehr Dreck als üblich weggekarrt worden war, kam die mittelalterliche Stadtmauer Stein für Stein opulenter zur Geltung und wurde nach und nach restauriert. Einschließlich der zahllosen Wiekhäuser, die den ehemaligen Wächtern der Stadt als Herberge dienten. Früher war die Stadt außerordentlich schwer einzunehmen gewesen und es war augenscheinlich eine größere Herausforderung, hinein zu gelangen. Heute standen wir eher vor dem Problem, wie wir N. verlassen konnten. Zumal wir nicht so richtig wussten, wohin.
Es gab sogar ein Lied darüber:
Wohin soll denn die Reise gehen, wohin, sag` wohin, ja wohin …
Im Zentrum ragte einsam das Hochhaus empor, ein 14-Geschosser. Dieses Gebäude war bereits in den Sechzigern errichtet worden. Was auch auf den ersten Blick erkennbar war, und für uns, gelinde gesagt, nach einem anderen Zeitalter klang. Schlicht anzusehen, bot es dennoch Strukturen. Es war nicht ganz hässlich, aber alles andere auch nicht. War es nun das neue Bauen, hatten sie keine anderen Ideen oder fehlte es an Material?
Hätten wir uns zu jener Zeit schon was aus Freud gemacht, wäre es als dominierendes Phallussymbol in einer verklemmten Gegend identifiziert worden. Doch soweit waren wir noch nicht, und machten uns keine Gedanken über Bauwerke oder Wirkung- Also beließen wir den Phallus im Reich der Phantasie. Jedenfalls sollte uns dieser architektonische Monolith auf moderne Weise Kultur beibringen und Bildung vermitteln: als Haus für Kultur und Bildung, kurz HKB. (Überhaupt, ohne Abkürzungen wäre die DDR vermutlich viel eher bankrott gegangen!)
Hier war die Bibliothek untergebracht.
Ein Grund für mich, öfter dort zu sein. Unlängst hatten sie nach wochenlanger Tüftelei ein Lochkartensystem eingeführt, und taten nun an der Ausleihe tatsächlich so, als könne künftig logistisch nicht mehr groß was kommen, als ein Loch am richtigen Platz.
Allerdings irrten sie auch in diesem Punkt.
Die Zukunft kommt eben immer erst Jahre später, und kam im Osten oft vollkommen überraschend. Es dauerte nicht mehr allzu lange und in Erfurt wurden die ersten Computer zusammengeschraubt. In der Schule fiel diesbezüglich der Begriff technologische Überlegenheit. Dieser wurde immer mehr ein Thema: in der Aktuellen Kamera, im ND, oder in anderen heiklen Quellen. Unter uns wurden derartige Ambitionen müde belächelt, falls wir überhaupt darüber sprachen. Wir blieben lieber misstrauisch, wenn der Fortschritt übermächtig zu werden drohte.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Auch meine Oma entpuppte sich als bedächtige Mahnerin vor propagierter Fortschrittsgläubigkeit. Zumal hierzulande kein Mensch wusste, was man mit Computern eigentlich so anstellen sollte. Nur die Zeitungen bejubelten regelmäßig einen Chip aus Thüringen, der im Wettlauf der Systeme den Kapitalisten von nebenan den Takt vorgeben und sie das Fürchten lehren sollte. Doch insgesamt betrachtet, erwischte uns im Norden die technologische Revolution einfach auf dem falschen Fuß.
Zurück zum Text: Im HKB jedenfalls protzte ein Foyer. Hier gab es einen Saal, in dem ich - neben vielen anderen Leidensgenossen meiner Generation - meine traumatisierende Jugendweihe überlebt hatte. Damit waren manch unschöne Erinnerungen verknüpft, vor allem unästhetische. Wie meine so genannte Kombination - graue Hose, dunkelblauer Blazer - in der ich mich bescheuert fühlte, und auch so aussah. Genauso wie übrigens der männliche Rest der Klasse. Hip ist definitiv etwas anderes, vielleicht hätte es schräg ein bisschen besser getroffen oder auch trashig. Auf jeden Fall boten wir einen traurigen Anblick. Zumal wir auch noch Hemd und Krawatte tragen mussten. Ich weiß gar nicht, was ich schlimmer fand. Dass mir so ein Teil den Hals zuschnürte, oder dass Schlipse (Das Wort allein klingt schon abscheulich!) bei jeder unpassenden Gelegenheit als Kulturstrick bezeichnet wurden.
Falls ich Wörter hasste, wäre dies mit Sicherheit ein Favorit auf meiner Liste. Unsere Mädels hingegen übten in Stöckelschuhen & Kostüm den aufrechten Gang, und ihre künftige Rolle gleich mit.
Wenigstens konnte ich meine Klamotten später für den Fasching verwenden. Da ging´s auch darum, so beknackt wie möglich auszusehen. Im Berufsausbildungszentrum (ostdeutsch: BAZ) reichte ein Bademantel, den ich über den Jeans trug, beim HKB-Verkleidungsfest eben die Sachen von der ideologischen Taufe und für den Faschingsaal des hiesigen Reparaturwerks (RWN natürlich) schnitt ich einfach einen Gummiball in der Mitte durch und setzte ihn mir auf den Kopf. Mein Bruder bekam die andere Hälfte. Fertig waren die Kostüme, und der Einlass gesichert.
Auch Kämpfer müssen mal pausieren und sich amüsieren. Dann trieben sie sich mit Polonaisen auf ihren Faschings-, Weihnachts-, Brigade- oder Betriebsfeiern durch die Säle. (Früher dachte ich, dass die Polonaise ein polnischer Volkstanz oder zumindest irgendwie eine Erfindung oder Pointe unserer östlichen Nachbarn war. Aber da wusste ich noch nichts von Französisch.) Unentwegt klebten die Verführten aneinander wie einstmals im DEFA-Film Die goldene Gans. Vor ein paar Stunden hatten sie sich in ihren Betrieben, Kollektiven und Brigaden noch angeschrien, voll gemotzt, aushilfsweise verachtet oder ignoriert. Jetzt irrten sie volltrunken durch bescheiden dekorierte Kantinen. Wenn Gemütlichkeit keine Heimat kennt, kennt Fröhlichkeit auch keine Grenzen. Das ließe sich umgekehrt genauso sagen. Am furchtbarsten fand ich diesen Schmidtchen Schleicher-Song, zu dem die ganze ältere Republik tanzte! Dessen perverse Melodie und ihr „Schleicher“-Duktus passten perfekt zu diesem System. Doch wenn es nach mir gegangen wäre, gehörte aufgesetzte Gemütlichkeit in der Öffentlichkeit ohnehin strikt verboten. Das wäre mal ein schönes Verbotsschild: ein durchgekreuztes schunkelndes Trio! Ähnlich wie durchgestrichene kackende Hunde. Dann wäre hier vermutlich schneller Schluss mit lustig! (Was, nebenbei bemerkt, auch mal ein prima Faschingsmotto wäre!) Ich mochte keinen Fasching, ging aber wie alle anderen hin, die ebenfalls keinen Fasching mochten. Das brachte uns allen einen Abend, an dem man pausenlos in Gesichter starrte, die hier gar nicht sein wollten. Auch deshalb betrank man sich kollektiv und schaukelte erst auf dem Parkett und später nach Hause. Dann herrschte wieder ein Jahr Ruhe.
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