1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 „Hast du Mathe?“, fragte ich Malte.
Er nickte und sagte, dass er noch Deutsch bräuchte. Ich gab ihm meine Gedicht-Interpretation und tauschte gegen Geometrie. Von wegen, wir würden nichts für die Schule tun, für unsere schöne Schule, wie wir öfter und grinsend in gemeinsamer Erinnerung an die erste Schulstunde unsere Klassenlehrerin zitierten. Wir schrieben die Hausaufgaben ab, tranken Weißwein dazu, der von übrig war, und dachten uns, dass dies schon mal kein schlechter Anfang für den Tag wäre. Durchs Fenster lugten wir aus dem noch nicht einmal zehn Quadratmeter großen Kabuff, das die sozialistischen Bauherren euphemistisch als Kinderzimmer projektiert hatten. Wir schauten anderen auf ihrem Schulweg zu und blickten uns um. Dort draußen war alles auf eine ähnliche Art genormt wie drinnen. Häuserblocks, Kindergärten, Spielplätze, Hecken, Beete, Straßen und Wege. Eine perfekte Stadt, nicht um die Orientierung zu verlieren, nur die Lust. Und hier sollten wir alt oder wenigstens älter werden?
Halb acht begann der Unterricht. Vielleicht hatten wir ja heute wirklich eine Stunde später. Und wenn nicht, na, dann war das auch nicht weiter schlimm. Es klopfte sachte und meine Mutter blickte etwas irritiert, den Wein übersah sie entweder geflissentlich oder real. Schließlich wähnte sie uns schon auf dem richtigen (Schul-)Weg, durfte aber ihren „4“-er Bus in die Stadt nicht verpassen.
„Müsst ihr gar nicht los?“ fragte sie.
„Nö“, sagte ich.
„Ausfall?“, fragte sie.
„Ja“, sagte ich.
„Wahrscheinlich“, murmelte Malte.
Die Wohnungstür schloss eilig. Meine Mutter war Lehrerin und durfte nicht zu spät kommen.
Für unsere Eltern waren wir schon ein bisschen die verlorene Generation. Vielleicht sogar mehr als wir es uns selbst einbildeten, vor allem am frühen Morgen. Es war ihnen auch gar nicht zu verdenken. Denn eine morgens halb geleerte Flasche Weißwein stand kaum für berufliche Karrieren, die sich andere für uns vorstellten. Uns ausdrücklich ausgenommen, denn wir stellten uns gar nichts vor. Auch für die meisten unserer Lehrer blieben wir ein Rätsel, wenn nicht sogar Schlimmeres.
Malte rülpste, das Zeichen zum Aufbruch. Wir stiegen die breite Treppe hoch, am Kindergartenkomplex vorbei. Hier wurden also unsere Komplexe samt Konsequenzen geboren, gehegt und großgezogen. Dann die Harder-Straße, dahinter am Spielplatz entlang, wo ein paar Spaßvögel von Bauarbeitern einige Kanalschachtelemente verkehrtherum zu Treppenstufen umfunktioniert hatten. Noch einen Block entlang, dann kam schon der nächste Kindergarten. Die Oststadt war die reinste Brutstätte!
Malte musste noch nach Hause, Schulsachen holen. Er kam mit Nylonbeutel wieder, ästhetisch kein Anblick. Auf dem restlichen Weg redeten wir uns den Tag schöner, als er in der Regel werden sollte. Es war so eine Art Schutzfunktion. Was raus war, nervte uns nicht mehr. Es musste ja nicht immer Spaß machen, aber Sinn ergeben - das wäre schon mal was. Denn Sinn machen ergibt keinen Sinn, kalauerte ich gelegentlich vor mich hin. In solchen Momenten blieb ich in der Clique unverstanden, außer bei Malte. Ich gewann immer mehr den Eindruck: der wusste, worauf es ankommt. Und ich? Wie sah´s bei mir aus?
Es war eine Zeit, als sich die Dinge noch schneller änderten als die Menschen. Ich spürte, dass es wichtiger werden könnte mich zu entscheiden; ich ermaß die zwei Jahre, die ich in dieser Stimmung verbracht hatte. Wie die Brücken in die Kindheit brüchiger wurden, genauso wie vor Jahren meine Stimme. Was sollte ich tun? Die Zeit machte mit mir sowieso, was sie wollte. Letztlich genau wie die Natur. Damals galt die Natur noch nicht so überschätzt wie heute. Doch derlei Gedanken in der Früh ignorierten eines: Morgens werden keine Sieger gemacht! Das war schon mal klar, schon gar nicht Sieger der Geschichte. Oje, ich glaube, vor lauter Melancholie hatte ich sie jetzt nicht mehr alle.
Liebe kann so grausam sein oder Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Lieblingssprüchen meiner Oma. Schwierige Entscheidung, aber wirklich. Denn was ist Melancholie anderes, als das erstaunliche Gefühl zu ahnen, dass sich die Welt von einem Moment auf den anderen schneller verwandeln kann als wir uns selbst.
Gottseidank stand ein Wochenende bevor, und Claires Party. Da konnte ich mir neue Gedanken leisten, die Grübeleien beiseiteschieben und mich den Dingen zuwenden, die wirklich wichtig waren. Dabei ging es um Land und Leute. Wahrscheinlich wollte die Heimat auch nur entdeckt und geliebt werden, wie wir alle. Aber ich wusste nicht so recht, ob Mecklenburg der geeignete Landstrich war, um diese Liebe zu erwidern. Es schmiss sich wie eine alte Vertraute an uns heran; mit Seen, Buchenwäldern und hügeligen Landschaften, dass wir bloß nicht wegwollten und treu bei ihr blieben, für immer. Mitunter war es ein großartiges Gefühl, sich hier satt zu sehen, manchmal eines zum Verzweifeln und noch seltener konnte man hier verrückt werden. Doch was hatte ich bisher an Alternativen gesehen? So gut wie nichts. Ich zögerte meine Heimatliebe noch ein Quäntchen hinaus.
Samstagnachmittag. Heute feierte Claire ihren Geburtstag nach, ihre Eltern waren übers Wochenende weggefahren. Das Häuschen reckte sich an einer Hangstraße, mit einem Garten voller Apfelbäume. Ich half Claire, Getränke und Würstchen zu besorgen, alles soweit herzurichten, manches sicherheitshalber wegzuräumen. Anschließend hatten wir noch ein wenig Zeit, uns um uns selbst zu kümmern, bevor die ersten Gäste eintrudelten. Wir begrüßten uns, schwatzten, tranken. Manche sahen sich die Woche über nicht, einige hatten auf diesen Tag hingearbeitet. Ich stand mit Hannes und quatschte, Bänni schlich vorbei ins Haus und Bracke parkte sein Auto im Garten, um weitere Getränke auszuladen. Dann verabschiedete er sich Richtung Buffet. Das konnte dauern. Bänni kam mit ein paar Jungs raus. Drinnen hätte man das Ächzen und Stöhnen hören können, wenn jemand die Musik leiser gestellt hätte. Es würde nicht mehr lange dauern, und Claires Geburtstagsparty käme so richtig in Fahrt.
Verkehrte Welt, aus Fahrersicht.
Wäre es ein Käfer gewesen, hätte ich wenigstens an Kafka denken können. Wer weiß, dieser Tag hätte noch eine andere literarische Wendung nehmen können. So wurde es, zumindest für einen von uns, ein Drama. Wir Übrigen schwankten zwischen einem Hauch Komödie und einer Prise Tragödie. Insgeheim entschieden wir uns für etwas dazwischen, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch keinem literarischen Genre zuzuordnen wussten. Und auch an Kafka dachte ich erst später, als schon alles gelaufen war.
Aber es war kein Käfer, es war nur ein Trabant. Brackes Trabant. Der lag nun zwischen Apfelbäumen und Veranda auf dem Dach. Es schien als läge er auf seinem Rücken, und strampelte mit seinen Rädern. (Ein Erdtrabant gewissermaßen, wenn jemand Lust auf einen Kalauer hätte.) Ich hatte keine, und ein anderer ganz bestimmt auch nicht: Bracke. Nur, er wusste es noch nicht. Ein paar Gäste meinten später, der Trabi hätte auf der Seite gelegen, als schliefe er. Andere konnten sich an nichts erinnern. Einige standen kichernd herum, die meisten spazierten ins Haus, und wieder zurück. So ging es eine Zeitlang hin und her. Es dämmerte gerade erst. Der Trabi wurde zur Pilgerstätte, one of the places you must see before … Immer wieder kam jemand vor die Tür, grinste oder prustete, und verschwand. Einige blinzelten sich verschwörerisch zu, bis auf einen, beziehungsweise bis zu jenem Zeitpunkt, als dieser eine, Bracke nämlich, mampfend aus der Tür kam, ungläubig seinen Trabi anglotzte und tobte:
„Ich krieg die Motten! Welcher Idiot …“
Der Rest seiner Tirade ging in einem von unruhigen Atemstößen unterbrochenen Fluchen verloren. Dann hörte man erst einmal nichts mehr. Brackes innere Wut beschwor für einen Augenblick merkwürdige Stille. Auch er selbst war verstummt und umkreiste sein Auto auf der Suche nach Verwundungen wie ein pingeliger Sanitäter im Schützengraben. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, prüfte, tastete, und manchmal hörte man ihn vor sich her murmeln, als nähme er den verursachten Schaden protokollarisch auf, währenddessen weitere Neugierige aus dem Haus strömten. Bracke blickte auf Gaffer, wir auf ihn. Jede Seite gab sich auf ihre Art Mühe, nichts zu sagen.
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