1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Mögen Sie das Theater?“, wandte er sich, in bester Absicht eine höfliche Konversation zu führen, an Susan. Diese blickte kühl nach vorne und machte sich gar nicht erst die Mühe Matthew anzusehen.
„Es kommt ganz auf das Stück an“, antwortete sie knapp.
„Nun dieses Stück soll wirklich sehr gut werden. Im Daily Courant las ich einen Artikel über den Regisseur und die Hauptdarstellerin Mary Sinclair.“
„Meine Mutter hat mir von dem Artikel erzählt.“
Matthew kam sich lächerlich vor, wie mühselig es war, sich mit seiner künftigen Ehefrau zu unterhalten. Und Susan machte keinerlei Anstalten das Gespräch fortzuführen. Es war eine Erleichterung, als das Licht im Saal gedämpft wurde, die Stimmen leiser wurden und man sich zurück lehnte, um diesen Abend zu genießen. Das Theaterstück erfüllte die hohen Erwartungen, die die Gäste mitgebracht hatten. Matthew war kein großer Theatergänger, aber auch er klatschte begeistert als sich der Vorhang senkte. In der Pause drängten sich die Leute in das große Foyer, um eine Erfrischung zu sich nehmen, um sich auszutauschen und um gesehen zu werden. Das war einer der Hauptgründe, warum die feine Gesellschaft ins Theater, in die Oper oder zu all den anderen Vergnügungen ging, die das West End zu bieten hatte. Die Collins und die Wentworths waren da keine Ausnahme. Sie standen in der Nähe der Bar zusammen mit einem Glas Champagner in der Hand. Die Frauen unterhielten sich über das Stück, Charles war in ein angeregtes Gespräch mit einer jungen Dame vertieft, die er vor kurzem bei einem Dinner einer gemeinsamen Bekannten kennen gelernt hatte. Mr Collins stellte sich dicht neben Matthew.
„Ich möchte, dass du dich morgen mit John Rennie triffst“, sagte er unvermittelt zu ihm. Matthew hatte sich schon denken können, dass die Vorstellung neulich auf der Verlobungsfeier nicht ohne Grund gewesen war.
„Warum?“, hakte er nach.
„John Rennie hat vor Jahren einen hohen Kredit bei uns aufgenommen, im nächsten Monat wird der Restbetrag fällig, aber er ist schon mit den letzten Raten in Verzug. Ich will, dass du mit ihm redest. Man kann dem alten Mann nicht zumuten, zu uns in die Bank zu kommen, deswegen wirst du morgen zu ihm fahren. Die Unterlagen liegen zu Hause in meinem Büro. Du kannst sie dir später noch ansehen.“ Matthew glaubte nicht an die Besorgnis seines Vaters um die Gesundheit von John Rennie. Vielmehr erhoffte er sich von diesem Eindringen in dessen Privatsphäre den Mann unter Druck setzen zu können.
„Was halten die Herren von dem Stück und von der bezaubernden Mary Sinclair“, wandte sich Mr Wentworth ihnen zu.
„Die Fähigkeiten von Miss Sinclair werden doch reichlich überschätzt“, sagte Mr Collins kühl und nach einem kurzen Augenaustausch mit Matthew gab er zu ihm verstehen, dass ihr vorheriges Gespräch beendet war.
„Mr Collins, gehen Sie nicht zu hart mit Englands Künstlern ins Gericht“, erwiderte Wentworth gut gelaunt. Matthew hatte den Eindruck gewonnen, dass sein Vater nicht besonders gut auf den lebhaften kleinen Mann zu sprechen war, aber die Wentworths besaßen viele Fabriken im Osten der Stadt und hatten sich dadurch ein Vermögen erwirtschaftet. Was genau Wentworth Industries produzierte, vermochte Matthew auch nicht zu sagen. Thomas Collins lebte nach dem Grundsatz, dass man nicht den Menschen hinter dem Geld mögen musste, sondern nur das Geld selbst. Der Gong ertönte und ließ sie wieder zurück in den Saal schwärmen.
Der erhoffte gesellschaftliche Effekt, den Mr Collins mit diesem Theaterbesuch bezwecken wollte, war ihm gelungen. Für Matthew hatte er eine gezwungene Konservation mit Susan bedeutet, die ihn in seinem Bestreben, mit Polly London zu verlassen, nur noch bestärkt hatte.
John Rennie junior wohnte mit seiner Frau in einem der vornehmen Stadtvillen im Stadtteil Mayfair. Mayfair hatte sich in den letzten Jahren zu einer der besten Adressen der Stadt entwickelt und jeder, der etwas auf sich hielt und sich dieses Ansehen auch leisten konnte, besaß eines der wundervollen Stadthäuser. John Rennie, als begnadeter Architekt, musste jedes Mal das Herz aufgehen, wenn er durch diese Straßen ging, dachte sich Matthew. Er kannte sich hier ein wenig aus, denn ganz in der Nähe befand sich auch der Schneider seines Vaters. Mit einem Aktenkoffer unter einem Arm geklemmt und einem Regenschirm in der Hand stieg Matthew aus der Kutsche in den strömenden Regen, der seit dem frühen Morgen eingesetzt hatte. Auf dem kurzen Weg bis zur Eingangstür, die zum Glück durch einen schmalen Balkon geschützt war, war er in zwei Pfützen gestiegen und sein Hosensaum war schmutzig und durchnässt. Ärgerlich klopfte er an die Tür und wurde schon ein paar Sekunden später hinein gebeten. John Rennie saß noch im Speisezimmer und aß zu Mittag. Matthew entschuldigte sich vielmals und bot an so lange im Salon zu warten, doch Rennie rief ihn schon durch die offene Tür zu sich herein. Als Matthew auf dem Weg in das Esszimmer eine Spur aus Wasser und Dreck hinterließ, hörte er hinter sich den Butler laut die Nase rümpfen. Der alte Mann saß allein an einer langen Tafel in einem geschmackvoll eingerichteten hellen Zimmer, dessen hohe Fenster zur Straße hinaus zeigten.
„Mr Matthew, ich darf Sie doch so nennen, oder? Bei Mr Collins muss ich immer an Ihren Vater denken“, begrüßte er ihn fröhlich und stand langsam, auf seinen Stock gestützt, auf, um ihm die Hand zu reichen.
„Lassen Sie sich nicht durch mich stören. Ich bin heute etwas spät mit dem Essen. Wollen Sie auch noch etwas?“, bot er ihm an, doch Matthew lehnte dankend ab.
„Ihr Vater schickt Sie also, bei unangenehmen Dingen lässt er Ihnen den Vortritt, habe ich Recht?“ Er zwinkerte ihm zu und Matthew, der die Worte nicht abstreiten konnte, ohne dabei zu lügen, setzte sich nur.
„Wie geht es Ihrer Verlobten?“ Rennie ließ sich stöhnend wieder am Tisch nieder und aß weiter.
„Ganz gut.“ Er warf Matthew einen verstehenden Blick zu.
„Glauben Sie mir, die meisten Ehen werden nicht aus Liebe geschlossen, sondern aus reinem Eigennutz, aus gesellschaftlichem Zwang oder Habgier. Ich war nicht besser, als ich meine Frau heiratete, aber inzwischen kann ich nicht mehr ohne sie leben.“ Er zwinkerte ihm zu. Matthew, dem es unangenehm war, über seine Ehe mit Susan zu sprechen, räusperte sich und holte die Unterlagen aus seinem Aktenkoffer.
„Mr Rennie, es geht um Ihren Kredit in Höhe von 50.000 Pfund. Im nächsten Monat wird der Restbetrag fällig von 10.000 Pfund und wir sind besorgt über ihre noch ausstehenden Zahlungen. Da Sie und ihre Familie treue Kunden von Collins & Sons sind, hat mein Vater Ihnen ein Angebot ausgearbeitet bezüglich der Restsumme. Wenn Sie sich das einmal anschauen würden.“ Er schob ihm die Mappe zu, doch Rennie lehnte sich in seinem Stuhl zurück und tupfte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab.
„Wissen Sie warum ich den Kredit damals aufgenommen habe?“
„Nun nicht genau, aber es geht jetzt um Ihre noch ausstehenden Zahlungen und…“, begann Matthew.
„Ich bin immer noch auf der Suche nach meinem Vater“, fuhr er, ohne auf Matthew einzugehen, fort. „Ich brauchte das Geld, um einen Privatdetektiv anzuheuern. Wissen Sie, wieviel Geld so eine Untersuchung schluckt, die ich ins Leben gerufen habe? Natürlich weiß ich, dass mein Vater inzwischen längst tot sein muss, aber John Rennie senior war nicht nur einfach mein Vater, er war mein Lehrmeister, mein Vorbild, meine Inspiration. Den Bau der London Bridge führte ich in seinem Namen fort, sie ist mehr für mich als nur eine Brücke, die über die Themse führt. Sie ist mein Abschiedsgeschenk an ihn.“ Matthew lauschte den Worten des Mannes, doch es war ihm unangenehm. Es war ganz so, als würde er in die tiefsten Gefühlswelten des alten Mannes Einblick bekommen und das verstörte ihn. Er blätterte durch die Seiten des Vertrages, um seinen Händen eine Beschäftigung zu geben. Rennie, der jetzt die Stirn runzelte, war ganz versunken in seinen Erinnerungen.
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