„Mein Anteil an dieser Brücke ist nur mäßig Mr Matthew, es war mein Vater, der sie entworfen hat. Ich habe nur sein Werk vollendet.“ Sein Lächeln wurde traurig. „ Ich habe sie fertiggestellt, in der Hoffnung, er würde sie eines Tages sehen und stolz auf mich sein. Leider ist es nie so gekommen und inzwischen dürfte es zu spät sein. 60 Jahre sind seitdem vergangen.“ Matthew kannte die mysteriöse Geschichte um John Rennie senior, der eines Tages spurlos verschwunden war. Monatelang hatte man ganz London durchkämmt auf der Suche nach dem begabten Architekten, aber nicht die geringste Spur hatte man gefunden. Man war zunächst von Entführung ausgegangen, doch es traf nie eine Lösegeldforderung bei seiner Familie ein. Dann glaubte man an einen Unfall, aber auch seine Leiche ward nie gefunden, weder in den Straßen noch in der Themse. Die Presse hatte die ganze Geschichte angeheizt und so viel über die Angelegenheit geschrieben, dass selbst die Polizei am Ende nicht mehr wusste, was wahr war und was nur der Feder eines Journalisten entsprungen war.
John Rennie junior verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und zuckte vor Schmerz leicht zusammen.
„Die Gicht“, erklärte er, „mein Arzt verbietet mir eigentlich all diese Köstlichkeiten, die Sie hier anbieten und auch vom Alkohol soll ich mich fernhalten, aber was hat ein Mann in meinem Alter denn noch vom Leben außer einem guten Glas Whisky und ein paar hübschen Frauen.“
„Das ist wohl war Mr Rennie“, sagte Matthew lachend.
„Sie sind ein hübsches Paar, Sie und Miss Wentworth“, sagte er und nickte mit dem Kopf zu Susan hinüber, die sich inzwischen mit Mrs Bird, einer Witwe und guten Freundin der Familie unterhielt.
„Das sagt man mir häufig in letzter Zeit. Dann muss es wohl wahr sein“, antwortete Matthew und versuchte zu lächeln, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Rennies Blick schien ihn zu prüfen und Matthew hatte das Gefühl, der alte Mann würde direkt in seinen Kopf gucken und dort sehen, was er eigentlich fühlte. Er blickte hastig zur Seite und sein Blick fiel auf den wunderschön geschnitzten Holzstock. Die silberne Schlange an seinem Ende sah so echt aus, dass Matthew fast den Eindruck hatte, sie würde sich vor seinen Augen bewegen.
„Ein Erbstück meines Vaters“, erklärte Rennie, der seinen Blick bemerkt hatte, „es war ein Geschenk der Southwark Bridge Company für seinen Entwurf der Southwark Bridge. Wundervolle Arbeit nicht wahr? Muss ein Vermögen gekostet haben.“
„Mr Rennie, ich muss mich noch um ein paar meiner Gäste kümmern“, wandte sich jetzt Thomas Collins an den alten Mann. Er hatte sich während des Gesprächs vornehmlich zurück gehalten, um seinem Sohn den Vortritt zu lassen.
„Mr Collins, vielen Dank für die Einladung. Und nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich einmal in die roten Zahlen rutschen sollte.“ Rennie lächelte und schüttelte ihm die Hand. Mr Collins gab das Lächeln zurück, aber Matthew wusste, dass Witze über das Bankgeschäft seinen Vater nie zum Lachen brachten. Matthew starrte weiter gedankenversunken den Schlangenkopf auf dem Handstock an.
„Sie sollten sich um Ihre Verlobte kümmern Mr Matthew“, sagte Rennie plötzlich und zwinkerte ihm zu. Doch Matthew zog es nicht zu seiner Zukünftigen hinüber, sondern er verschwand möglichst unauffällig durch die Tür zum Dienstbotentrakt. Er hörte ein paar laute Stimmen aus der Küche, doch niemand bemerkte ihn. Das Personal war voll und ganz mit der Bewirtung der Gäste beschäftigt. Der Flur führte in einen Hinterhof, der von der Straße aus über einen schmalen Durchgang zwischen den Häusern zu erreichen war. Vor ihm auf einem umgestülpten Eimer saß Bernie und rauchte eine Zigarette. Neben sich hatte er einen Teller mit einem halb aufgegessenen Sandwich liegen.
„Mr Matthew, ich feiere meine eigene kleine Party. Haben Sie das junge Stubenmädchen mit den zwei geflochtenen Zöpfen bemerkt? Ist ganz süß die kleine, hat mir ein Sandwich gebracht.“ Matthew trat auf ihn zu und setzte sich auf einen Holzstumpf, der vermutlich im Winter zum Holzhacken verwendet wurde.
„Wo sind die anderen Kutscher?“
„Drei von denen hatten sich gerade mächtig in der Wolle. Haben Karten gespielt und einer war wohl ein schlechter Verlierer. Die sind gerade drinnen und verarzten den armen Kerl, bevor sein Herr nach Hause will. Und ein paar sind vorne auf der Straße, schauen nach den Pferden. Ich hab auf Sie gewartet Mr Matthew. Hab ihr den Brief übergeben.“ Er zwinkerte ihm zu und biss dann herzhaft in sein Sandwich.
„Danke Bernie. Was hat sie gesagt?“, fragte er nervös. Der Kutscher musste ein paarmal hart schlucken und sich räuspern bevor er antworten konnte.
„Sie hat gesagt, Sie sollen nicht kommen.“ Damit hatte Matthew gerechnet. Vorgestern war die Anzeige über die Verlobung im Daily Courant erschienen. Was mochte Polly gedacht haben? Natürlich hatte sie damit gerechnet, aber es schwarz auf weiß vor Augen zu haben, musste sie sehr getroffen haben.
„Ich werde trotzdem zu ihr gehen“, sagte er bestimmt. Bernie zuckte mit den Schultern.
„Hab ich ihr auch gesagt, dass Sie nicht auf sie hören werden. Aber Mr Matthew, von Mann zu Mann, wenn ich so offen sein darf, lassen Sie es gut sein. Miss Wentworth ist wirklich keine schlechte Partie, es hätte Sie durchaus schlechter treffen können. Ich geb ja zu, die Frau guckt immer als wenn sie gerade ein paar saure Gurken gegessen hätte, aber ansonsten.“ Er nahm den letzten Bissen und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund.
Bernie war eine ehrliche treue Haut und das schätzte Matthew an ihm. Seine Eltern und sein Bruder sahen in ihm den Kutscher, für Matthew war er ein Vertrauter geworden. Vielleicht lag es an den vielen Ausflügen, die sie nach Whitechapel unternommen hatten, an die heimlichen Besuche bei Polly, die Bernie für sich behielt. Matthew konnte ihm vertrauen.
„Susan Wentworth hat ihr Herz auch an einen anderen verloren“, erzählte Matthew.
„Hätte mich auch schwer gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Aber so sind die Zeiten.“ Bernie kramte eine weitere Zigarette aus der Hosentasche.
„Haben Sie noch Streichhölzer?“, fragte er mit der Zigarette zwischen den Zähnen. Matthew holte eine kleine Schachtel aus der Innentasche seines Fracks. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Dienstbotentrakt und ein junges Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, in der Hand einen Bierkrug, trat in den Innenhof. Als sie Matthew auf dem Holzstumpf sitzen sah, erschrak sie sosehr, dass sie beinahe das Bier verschüttet hätte. Matthew erhob sich mit einem Grinsen in Richtung Bernie.
„Dann lass ich Sie beide mal allein“, raunte er ihm zu.
„Du hättest dich ruhig etwas mehr um sie kümmern können“, schimpfte Mr Collins mit ihm, als sie in der Kutsche auf dem Nachhauseweg saßen.
„Lass ihn Thomas, es ist schon schwer genug für ihn“, versuchte seine Frau ihn zu beruhigen.
„Er muss endlich erwachsen werden und sich den Herausforderungen des Lebens stellen. Und dazu gehört nun mal auch, sich eine Frau zu nehmen.“ Matthew schwieg und starrte aus dem Kutschenfenster. Die Gaslampen draußen auf den Straßen brannten schon eine ganze Weile. Es war spät geworden und das war ein Zeichen, dass der Abend vollends gelungen war. Mr Wentworth und seine Frau konnten beruhigten Gewissens sagen, dass sie der Londoner Gesellschaft einen unterhaltsamen Abend geboten hatten.
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