1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 „Es war Weihnachten 1821 als er verschwand. Ich weiß es noch genau. Meine Mutter und ich saßen im Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum. Sie hatte sich etwas zum Nähen geholt, wie immer, wenn sie nervös wurde. Mein Vater hatte die Angewohnheit lange Spaziergänge zu machen, meist war er Stunden lang fort, um auf andere Gedanken zu kommen, um sich Anregungen zu holen, wie er mir einmal erzählte. Aber an diesem Tag war er schon lange überfällig. Irgendwann ging meine Mutter zu Bett, ich blieb die ganze Nacht auf, aber er kehrte nie zurück.“
Matthew hatte den Vertrag auf den Tisch fallen lassen und die Hände so stark aneinander gepresst, dass sie jetzt schneeweiß wurden und anfingen zu kribbeln. Erschrocken schüttelte er sie und setzte sich dann wieder aufrecht hin. Er war sich nicht sicher, ob Rennie jetzt eine Antwort von ihm erwartete, doch Rennie fuhr schon mit seiner Erzählung fort.
„Der Stock hier“, Rennie klopfte auf den Handstock mit der silbernen Schlange, „ist eines der wenigen Dinge, die mir von ihm geblieben sind.“
„Haben Sie nie auch nur einen Anhaltspunkt gefunden Mr Rennie?“, fragte Matthew jetzt neugierig, denn die Erzählung begann ihn zu faszinieren. Der Kredit war völlig vergessen.
„Angeblich war mein Vater in eine Verschwörung verwickelt zusammen mit Lord Winslow, dem Vorsitzenden der damaligen Southwark Bridge Company. Sie existiert inzwischen gar nicht mehr. Aber das ist alles nur Humbug, wenn Sie mich fragen. Aber nein, mein Vater ist bis heute spurlos verschwunden, kein Haar hat man von ihm entdeckt.“ Rennie räkelte sich auf seinem Stuhl und trank einen Schluck Wein.
„Wissen Sie, warum ich Ihnen das erzähle? Seien Sie nicht so streng mit Ihrem Vater. Man weiß nie, was einem der Tag noch alles bringt.“ Er zwinkerte ihm zu, dann hievte er sich mit seinem Stock hoch und humpelte auf Matthew zu.
„Das Angebot Ihres Vaters nehme ich an. Schicken Sie mir den neuen Vertrag zu, ich werde ihn unterzeichnen.“ Er klopfte Matthew auf die Schulter.
„Ich muss mich jetzt ein wenig hinlegen. Diese scheußliche Gicht, meine ganzen Knochen tuen weh. Gilbert wird Sie hinausbegleiten.“ Wie auf ein Stichwort erschien der Butler in der Tür. Matthew, der nicht wusste, wie mit ihm geschah und ob er jetzt seine Sache gut gemacht hatte oder nicht, packte hastig seine Unterlagen zusammen und folgte Gilbert hinaus.
„Tut mir Leid mit dem Schmutz“, murmelte er noch ehe Gilbert die Tür hinter ihm schloss. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen und Matthew konnte den Schirm getrost zugeklappt lassen. Als er die Kutsche erreichte, die ein paar Häuser entfernt wartete, war er überrascht, als er Marty, den kleinen Jungen aus Whitechapel, auf dem Kutschbock neben Bernie erblickte. Marty zog gerade genüsslich an einer Zigarette und stützte die Beine gegen das vordere Ende der Kutsche.
„Marty, was um Himmels Willen tust du hier?“, rief Matthew überrascht als er auf die beiden zukam.
„Matthew! Was ein Zufall, ne! Musste zweimal hingucken, aber dann hab ich Bernie erkannt. Er hat mir gesagt, dass er auf dich wartet, du wärst in einem dieser pickfeinen Häuser. Mann, was für Paläste! Da passt unser kleiner Schuppen bestimmt hundertmal rein!“ Er schien ganz aufgeregt zu sein und bewunderte die hohen Gebäude zu beiden Seiten. Bernie verdrehte genervt die Augen.
„Und was machst du hier?“, fragte Matthew noch einmal. Marty grinste plötzlich und holte dann einen Sovereign aus seiner Hosentasche, den er ihm stolz präsentierte.
„Hab ihn mir verdient! Was sagst du dazu! Ist der beste Job, den ich je hatte. Und war keine große Sache. Naja, bis auf die Füße.“ Und er zeigte auf seine bloßen Füße, die von Dreck und Blut verklebt waren. Matthew war schockiert. Von Whitechapel bis nach Mayfair zu laufen, war die eine Sache, aber dann auch noch auf bloßen Füßen! Für ein Pfund war es Marty das wert gewesen.
„Ich lief Aldgate entlang auf der Suche nach meinem Vater, da tauchte plötzlich dieser alte Mann neben mir auf, der mir einen Brief in die Hand drückte und mich fragte, ob ich den Brief zu John Rennie in die Grosvenor Street bringen könnte. Er gab mir die Münze und ich hab sofort ja gesagt. Hier, schau sie dir an!“ Immer noch vor Stolz platzend reichte er Matthew seinen wohl verdienten Lohn. Matthew runzelte verwundert die Stirn. Wer gab einem Jungen im East End so viel Geld, nur um einen Brief zu übermitteln? Es war natürlich nicht so, dass Matthew noch nie einen Sovereign in der Hand gehabt hätte, doch als er jetzt die Münze in der Hand hielt und ihre Vorderseite betrachtete, war er verwirrt. Solch eine Prägung hatte er noch nie im Leben gesehen! Die Münzen, die er kannte, zeigten den Kopf von Queen Victoria. Es gab verschiedene Prägungen von ihr, das ja, aber auf dieser Münze war nicht Queen Victoria abgebildet. Es war in der Tat überhaupt kein Frauenkopf, sondern der eines Mannes. Matthew blickte die Münze nun genauer an und versuchte die Gravierung am Rande unter dem Schmutz zu entziffern. Was er dort las, verwirrte ihn noch mehr: Georg V . Marty betrachtete ihn nervös.
„Is was mit dem Geld?“, fragte er ängstlich. Matthew wollte ihn nicht beunruhigen und gab ihm die Münze kopfschüttelnd zurück. Vielleicht eine Sonderprägung, von der er noch nichts gehört hatte. Dann sprang Marty vom Kutschbock und versuchte albern einen Knicks vor Matthew, der ihm nicht so recht gelang.
„Bis zum nächsten Mal Mr Matthew“, sagte er mit tiefer Stimme, grinste dann noch einmal und hüpfte pfeifend die Straße entlang davon.
„Aufgeweckter Bursche“, brummte Bernie.
Thomas Collins war ganz erstaunt, als Matthew etwa eine Stunde später wieder in der Bank auftauchte und ihm erzählte, dass John Rennie ohne irgendwelche Einwände den Vertrag unterschreiben würde. Dann nahm er es schließlich schulterzuckend hin und gratulierte seinem Sohn. Das an sich kostete seinen Vater schon Überwindung, denn er verteilte Lob nur sehr sparsam und quittierte die meisten erfreulichen Nachrichten nur mit einem Nicken. Von der Geschichte über den verschwundenen John Rennie senior sagte Matthew hingegen nichts. Er dachte an die Worte des alten Mannes, als er jetzt seinem Vater so gegenüberstand. Natürlich war Thomas Collins auch für ihn in gewisser Weise ein Lehrmeister, er hatte ihn in das Bankgeschäft eingeführt, ihm einen leitenden Posten zugesichert, wenn er alt genug war, aber Matthew würde wohl nie so für seinen Vater empfinden, wie John Rennie junior es getan hatte.
Es waren noch genau sechs Wochen bis zur Hochzeit und Mr und Mrs Wentworth waren voll und ganz mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie hatten von Anfang an darauf bestanden die Feierlichkeiten in ihrem Haus abzuhalten und Matthews Vater, für den Gesellschaften und Soirées in seinem eigenen Haus mehr ein gesellschaftlicher Zwang denn ein Vergnügen waren, hatte dieses Angebot nur zu gerne angenommen. Mr Collins hatte ihnen jedoch vorgeschlagen, ein paar Leute seiner Dienerschaft für diese Zeit zur Verfügung zu stellen, doch die Wentworths hatten dankend abgelehnt. Man wollte sich nicht die Blöße geben, dass man nicht genug Personal beschäftigt hätte, um eine Hochzeitsfeier zu veranstalten. Es versetzte Matthew einen kleinen Stich, jedes Mal wenn er bei den Wentworths zum Tee eingeladen war und sah, wie die Vorbereitungen vorangingen. Er würde nicht an dieser Hochzeit teilnehmen. Er hatte Mr Wentworth zwar ins Herz geschlossen, den kleinen stets gut gelaunten Mann, dessen Tochter und Frau waren aber so anders, dass es Matthew ein Rätsel war, wie er über all die Jahre diese Fröhlichkeit hatte beibehalten können. Man sah schon jetzt, dass die Hochzeitsfeier noch pompöser werden würde als die Verlobungsfeier. Er ging zusammen mit Susan und Mrs Wentworth die Speisenabfolge, die Aperitifs sowie die Hochzeitstorte durch. Doch so sehr er sich auch bemühte nach außen den perfekten Schwiegersohn zu spielen, er war nur mit halbem Herzen dabei. Seine eigentliche Energie verwendete er darauf, die Reise nach Paris zu planen. Polly hatte ihm zwar deutlich gemacht, dass er sie vergessen sollte, aber das tat er nicht. Er würde mit ihr fortgehen und wenn sie erstmal neben ihm im Zug sitzen würde, wäre sie froh darüber, das wusste er. Er schickte Bernie nach Paddington, um Fahrkarten für die nächstmögliche Fahrt nach Brighton zu kaufen. Ab dort würden sie mit dem Schiff übersetzen nach Frankreich. Als der Schneider seines Vaters zu ihnen nach Hause kam, um Maß zu nehmen an Matthew für einen neuen Frack, wusste er, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Er musste fort von hier. Auf einem Briefbogen, der mit dem Wasserzeichen der Familie Collins versehen war, schrieb er in fein säuberlicher Schrift: Sonntagabend bei Sonnenuntergang, Southwark Cathedral, letzte Bankreihe. Bernie nahm mit einem besorgten Ausdruck den Brief entgegen, denn er wusste, wenn er ihn Polly in die Hand drückte, gäbe es kein Zurück mehr. Aber Matthew ließ sich nicht beirren. Er hatte Glück. An genau jenem besagten Sonntag, den 13. Mai 1892, waren seine Eltern bei Freunden zum Dinner eingeladen. Charles würde sich die Zeit vermutlich mit der jungen Frau vertreiben und Matthew erklärte, er wolle noch einmal die Gästeliste für die Feier in Ruhe durchgehen. Mr Collins sah das als guten Willen seines Sohnes an, endlich Vernunft angenommen zu haben. Als Mr und Mrs Collins das Haus verließen und Matthew ihnen nachblickte, fiel ihm ein, dass er sie vielleicht niemals wiedersehen würde. Doch ein sentimentaler Gefühlsausbruch lag ihm fern. Vielmehr wollte er einen Brief hinterlassen mit ein paar Abschiedsworten, doch wohin seine Reise gehen sollte, das verriet er nicht. Er zündete sich eine Zigarre im Wohnzimmer an und schenkte sich einen Brandy ein. Anstatt der Gästeliste nahm er die Zeitung zur Hand. Dann ließ er sich auf der Couch nieder und blätterte durch die Seiten, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er war viel zu nervös, um zu lesen. Polly würde da sein, das hatte sie ihm versprochen. Bernie war mit seinem Brief zurückgekehrt, auf dem sie ein schlichtes ja geschrieben hatte. Daraufhin war er vor Freude durch sein Zimmer getanzt und hätte dabei fast eines der Stubenmädchen zum Tanz aufgefordert. Er hatte sich noch gerade beherrschen können. Der Himmel draußen wurde langsam dunkler. In einer Stunde würden die Gaslampen angezündet werden. Sein Herz pochte. Die Zeiger der großen Standuhr tickten laut in dem ansonsten stillen Raum. Unaufhörlich schob sich der Sekundenzeiger vorwärts, drehte Runde um Runde und Matthew verfolgte seinen Weg mit angespanntem Blick. Schließlich faltete er die Zeitung zusammen, legte sie zurück auf den Beistelltisch und löschte die Lampen. Dann ging er leise in die Eingangshalle und nahm seinen Mantel und den Zylinder von der Garderobe. Die Fahrkarten steckten in der Innenseite. Er blickte sich noch einmal in der Eingangshalle um, sah sein blasses Gesicht in dem großen Wandspiegel gegenüber, dann gab er sich einen Ruck und verließ sein Elternhaus am Belgrave Place.
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