„Man was wäre ich gerne bei diesem Motorradrennen in Frankreich dabei. Das wäre doch was, oder Harry? Ich glaub, ich hätte sogar die Chance zu gewinnen“, hörte Matthew den Blonden sagen.
„Quatsch nicht rum, wann bist du denn Motorrad gefahren?“
„Na mit der Maschine meines Alten. Bin auf dem Hof gefahren. Betty hat sich sogar getraut, sich hinten drauf zusetzen.“
„Das kannste doch nicht mit dem Rennen dort vergleichen, Jacob! Das sind alles Profis.“ Harry, ein pickliger Junge mit zurück gegeeltem schwarzem Haar, lachte über die Dummheit seines Kollegen.
„Auf einer Hildebrand & Wolfmüller?“, fragte Matthew durch seine Gitterstäbe hindurch. Er hatte einmal das Vergnügen gehabt, auf solch einem Motorrad zu fahren, war aber davon nicht besonders angetan gewesen. Sein Großonkel Walter, der begeistert war von diesem neuartigen Zweirad, hatte ihn unter strengem Blick gestattet, sich einmal drauf zu setzen. Harry und Jacob drehten sich mit verdutzten Gesichtern zu ihm um.
„Ne natürlich nicht! Was hast du denn für Vorstellungen?“, sagte Jacob und schüttelte verständnislos den Kopf. Matthew lehnte sich an die kalte Wand und starrte ins Leere. Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, wie er jetzt mit Polly in einem Wagon sitzen und die englische Landschaft an sich vorbeirauschen sehen würde.
„Die haben die ersten Listen veröffentlicht mit den Toten von der Titanic“, hörte er Harry leise sagen, „kann’s immer noch kaum glauben. Mein Onkel ist mitgefahren, hatte ich dir das erzählt? Sein Name steht auch dabei.“ Harry reichte Jacob sein Stück Zeitung, der es neugierig entgegennahm.
„Ich kannte auch welche. Und damals haben wir gescherzt, was wir für eine Fahrkarte nicht alles gegeben hätten, weißt du noch? Kann’s immer noch nicht fassen. Unsinkbar haben sie gesagt, so ein Schwachsinn.“
Matthew öffnete die Augen und starrte die beiden Jungen an. In seinem Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten, doch so sehr er sich bemühte, er konnte mit dem Wort Titanic nichts anfangen.
„Was ist die Titanic?“, fragte er nach einer Weile und kam sich dabei reichlich dumm vor. Schließlich las er jeden Morgen die Zeitung und erst gestern, bevor er aufgebrochen war, hatte er sie noch einmal durchgeblättert. Er war nirgendwo auf den Namen Titanic gestoßen.
„Ich glaub der Kerl hat wirklich zu viel getrunken“, sagte Harry und schielte zu ihm hinüber.
Matthew war jetzt aufgestanden und lehnte sich an die Zellentür.
„Ich meine es ernst“, wiederholte er, „ich habe diesen Namen nie zuvor gehört!“
„Dann haste die letzten Jahre hinterm Mond gelebt. Die Titanic ist ein Schiff, das größte und luxuriöseste, das jemals gebaut wurde und man hielt es für unsinkbar. Aber letzten Monat ist sie gesunken. Mehr als 2000 Menschen waren an Bord, kaum einer hat überlebt.“ Matthew starrte sie fassungslos an und klammerte sich noch heftiger an die Gitterstäbe. Das war unmöglich. Er hatte nichts davon mitbekommen! Sir Benjamin McEwens von der Königlichen Marine hätte auf seinen zahlreichen Besuchen bei ihm zu Hause doch mit großer Sicherheit ein Wort über die Titanic verloren!
„Es tut mir sehr leid, aber ich habe wirklich nichts davon gehört geschweige denn gelesen! Wann sagten Sie, sei die Titanic gesunken?“, sagte Matthew. Er hatte einen letzten Funken Hoffnung, dass die Jungen in auf dem Arm nahmen, aber die beiden blickten nun ganz ernst in seine Richtung.
„Letzten Monat, am 14. April“, sagte Harry.
„Kann ich…Kann ich den Artikel einmal sehen?“, fragte Matthew leise und streckte eine zitternde Hand nach ihnen aus. Schulterzuckend gab Jacob ihm die Zeitung. Sie hatten ihn nicht belogen. Es war ein Artikel im Daily Mail mit den neuesten Informationen zum Schiffsunglück und einer kleinen Liste mit den, anhand er Passagierlisten überprüften, Namen derjenigen, die in dieser Nacht ums Leben gekommen waren. Matthew blätterte krampfhaft weiter: Ansprache des Königs am kommenden Sonntag, Sanierungsarbeiten an St Paul’s Cathedral fertiggestellt, Unsere Athleten für Olympia in Stockholm… Jede Überschrift war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Warum sprachen sie vom König? Es war Queen Victoria! Und an Sanierungsarbeiten an der St Paul’s Cathedral konnte er sich nicht erinnern, er war schließlich erst gestern an ihr vorbeigefahren. Und von olympischen Spielen in Stockholm hatte er auch noch nie etwas gehört. Entsetzt ließ er sich mit der Zeitung in der Hand auf seiner Pritsche nieder. Das konnte alles nicht wahr sein, was war mit ihm geschehen? Er war doch nur auf dem Weg über die Southwark Bridge gewesen als… ja, als was? Als ihn dieser seltsame Schwindel erfasst und ihn zu Boden gerissen hatte, als er das Gefühl gehabt hatte, der Boden würde unter ihm versinken und ihn in die Tiefe zerren. Matthew blickte auf die Titelseite der Daily Mail und was er dort oben in der rechten Ecke, ganz klein und unscheinbar, las, trieb ihn die Tränen in die Augen und ließ ihn dann vor seinen Füßen erbrechen: 13. Mai 1912.
„Der Kerl ist doch betrunken“, murmelte Harry zu Jacob, „jetzt sieh dir die Sauerei an. Und wer kann‘s wegwischen? Wir mal wieder.“
Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, er zitterte wie Espenlaub und stöhnend richtete er sich wieder auf, um an die Zellentür zu humpeln. Angewidert wichen die beiden Polizisten vor ihm zurück. Erbrochenes klebte an seinem Mantel und hing ihm am Kinn. Er wischte es gedankenlos mit dem Ärmel weg und stierte zu Harry und Jacob.
„Als ich losgelaufen bin, war es der 13. Mai 1892. Wie in Gottes Namen kann ich zwanzig Jahre auf dieser Brücke verbracht haben“, sagte er, sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren.
„Sie reden wirres Zeug, setzen Sie sich wieder“, erwiderte Harry. Matthew machte ihm offensichtlich Angst.
„Wie?“, brüllte Matthew jetzt, „das war keine Parade draußen vor der Tür, stimmt’s? Diese, diese Kutschen mit Motor, die fahren hier jetzt immer, hmm? Und wir haben jetzt neuerdings einen König! Mein Gott, ich werde verrückt.“
„Sie meinen Autos, und ja, die fahren hier immer.“
Dann fiel es Matthew plötzlich wieder ein: die Zugtickets. Hektisch wühlte er in seinen Manteltaschen und zog dann mit zitternden Fingern die beiden Karten hervor. Er streckte sie Harry entgegen.
„Hier! Sehen Sie sich das Datum an! Lesen Sie’s vor! Na los doch, ich bin nicht verrückt“, zwang er Harry dazu und drückte die Karten durch die Stäbe. Zögernd nahm dieser die Zugtickets entgegen und warf einen Blick darauf. Stirnrunzelnd schaute er wieder hoch in Matthews fleckiges aufgebrachtes Gesicht, dem wirren Haar und der blutverkrusteten Wunde an der Stirn.
„Was steht da?“, sagte Matthew panisch.
„Abfahrt Gleis 2 Paddington Station, 13. Mai 1892, 05:45 Uhr“, sagte Harry langsam woraufhin Jacob ihm die Karten verdutzt aus der Hand riss.
„Und welches Jahr haben wir heute?“, setzte Matthew nach.
„1912!“
Matthew brach in ein hysterisches Lachen aus, das den Beamten aus dem Büro nebenan anlockte, der jetzt fragend in der Tür stand.
„Ich habe zwanzig Jahre übersprungen! Zwanzig Jahre auf dieser verfluchten Brücke verbracht! Ich habe Polly sitzen gelassen, ich habe meinen Zug verpasst und ich weiß ich habe keine Lust noch länger in diesem verfluchten Jahr zu bleiben“, schrie er jetzt das ganze Polizeirevier zusammen. Der Beamte wies die beiden Jungen an, Matthew durch die Gitterstäbe von hinten festzuhalten. Dann holte er aus einem Wandschrank eine Spritze hervor, die er mit einem Beruhigungsmittel füllte.
Читать дальше