„Der Kerl ist wahnsinnig“, sagte Harry noch einmal, als er zusammen mit Jacob Matthews Arm zu fassen bekommen hatte und ihn jetzt mit dem Rücken an das Gitter presste. Das Beruhigungsmittel wirkte sofort. Matthew sackte schlaff zusammen und blieb auf dem Boden neben seinem Erbrochenen liegen.
Sie ließen ihn am späten Nachmittag nach einer ernsthaften Ermahnung gehen. Vermutlich hätte die bürokratische Erfassung seines Verbrechens mehr Aufwand bedeutet, als ihn einfach ein paar Stunden in eine Zelle zu sperren, in der Hoffnung, er würde von selbst wieder normal werden. Matthew hatte sich mit dem Tuch die gröbsten Reste seines Erbrochenen weggewischt und in einem kleinen Waschbecken sich einen Strahl kalten Wassers ins Gesicht gespült. Danach fühlte er sich ein bisschen besser, aber als er jetzt auf den Stufen vor dem Polizeirevier stand und auf die Straße vor seinen Füßen blickte, kam sein Entsetzen zurück. Das, was Harry und Jacob als Automobile bezeichnet hatten, fuhr in regelmäßigem Abstand an ihm vorbei. Diese Autos waren viel größer als die motorisierten Kutschen, schneller und lauter. Nur vereinzelt fuhr ein Pferdekarren an ihm vorbei. Frauen in langen Tuniken und Röcken mit riesigen Hüten, ähnlich dem seiner Mutter, spazierten an ihm vorbei. Geschäftsmänner im Smoking und mit Bowler, in Tweed Anzügen und Hütten. Man beachtete ihn nicht, dazu herrschte viel zu großes Treiben auf den Straßen, aber er beachtete sie. Fassungslos starrte er jedem nach, der an ihm vorbeilief. Er hatte sein ganzes Leben in London verbracht und doch war diese Stadt auf einmal fremd für ihn. Sie hatte sich verändert, war nicht stehen geblieben in den letzten Jahrzehnten, hatte eine Jahrhundertwende miterlebt und all das ohne ihn. Wie konnte das sein? Eine angenehme warme Brise umspielte sein Gesicht und doch zitterte er am ganzen Leibe. Matthew zögerte zunächst auf der Treppenstufe, blieb unschlüssig stehen und versperrte den Weg für die Polizisten, die hinein oder hinaus wollten. Ärgerlich schüttelten sie die Köpfe, aber es war ihm egal. Schließlich holte er tief Luft und stürzte sich ins Jahr 1912.
Mai bis Dezember 1912
Matthew hatte nicht vor hier zu bleiben. Er wollte so schnell wie möglich wieder zurück ins Jahr 1892 und er dachte sich, dort, wo dieser Alptraum begonnen hatte, musste er auch wieder enden. Also machte er sich auf den Weg zur Southwark Bridge. Auf den Straßen drängten sich die Autos, Straßenbahnen und rote Omnibusse ohne Pferde schlängelten sich zwischen ihnen hindurch. Er war angespannt und doch, ganz langsam, begann er fasziniert seine Umgebung zu betrachten. Ein Zeitungsjunge lief laut schreiend an ihm vorbei und versuchte seine Zeitungen an den Mann zu bringen. Matthew lief ihm hinterher und kaufte ihm eine ab. Er dachte, dann hätte er ein Souvenir aus der Zukunft und musste im selben Moment über sich schmunzeln. Der Junge starrte verwundert auf den Penny.
„Ist eine Sonderprägung“, erklärte Matthew rasch und ging schnell davon. Plötzlich erspähte er in der Ferne die riesigen Ausmaße einer Klappbrücke. Der mittlere Teil war gerade vollständig hochgeklappt und ein Schiff passierte die Brücke. Matthew blieb staunend stehen und verstand erst nach einer Weile, dass es sich um die Tower Bridge handeln musste. Er kannte sie nur als mit Gerüsten umgebenes Stahlkonstrukt, halb fertig. Die Tower Bridge sollte ein Meisterwerk werden und er hatte ihrer Fertigstellung von Anfang an entgegengefiebert. Sie jetzt ganz plötzlich in ihrer vollen Pracht hier vor sich zu sehen, ließ sein Herz vor Freude höher schlagen.
„Sie können doch nicht einfach mitten auf der Straße stehen bleiben“, schimpfte ein Mann, der ihm in den Rücken rannte. Verärgert richtete er seinen verrutschten Bowler zurecht, musterte Matthew mit einem abschätzigen Blick und konnte es auch nicht lassen ein paar Schritte weiter erneut einen Blick über die Schulter zu werfen. Matthew starrte weiterhin gedankenversunken die Tower Bridge an. Und mit einem Mal erschien es ihm fast wie ein Geschenk, dass er die Chance bekommen hatte, vor allen anderen von seinen Freunden und Bekannten die Brücke in ihrer vollen Pracht zu erleben. Er könnte ihnen stolz davon berichten, obwohl es ihm natürlich keiner glauben würde. Er selbst glaubte noch nicht wirklich daran. Aber diese Fantasien, die er sich gerade ausmalte, konnten nur Wirklichkeit werden, wenn er wieder zurückkam und daran musste er als allererstes denken. Er ging weiter an der Themse entlang, betrachtete die dicht befahrene London Bridge, die ihm breiter vorkam, als er sie in Erinnerung hatte. Und dann war sie vor ihm, die Southwark Bridge. Er blickte sie eine Weile an, sah den Menschen entgegen, die über die Brücke auf ihn zukamen, den Wagen und Bussen. Die Brücke lag fest und starr vor ihm, so wie es sich für eine Brücke gehörte. Dann betrat er sie. Er glaubte im ersten Moment, der Schwindel würde ihn erneut packen, sobald er einen Fuß auf sie setzte, aber das tat er nicht. Matthew hatte einen klaren Kopf, abgesehen von dem leichten Schmerz durch die Wunde an seiner Stirn. Doch nichts geschah. Hinter den Dächern von Southwark neigte sich die Sonne langsam dem Horizont entgegen. Vielleicht musste er wieder bis zum Sonnenuntergang warten? Schließlich war es gestern auch um diese Zeit passiert, obwohl gestern natürlich der falsche Ausdruck war, schließlich lagen zwanzig Jahre dazwischen. Er lief bis zum mittleren Bogen und legte die Hand auf das Brückengeländer. Pochenden Herzens lehnte er sich über die Brüstung und starrte in die tiefen Fluten unter ihm. Die Londoner liefen an ihm vorbei, keiner kümmerte sich um den jungen Mann in der verschmutzten Kleidung, der sich über das Geländer beugte und verzweifelt darauf wartete, dass etwas geschah, irgendetwas. Doch nichts passierte. Matthew wurde immer nervöser. Musste er etwas Bestimmtes tun, etwas sagen? Er hatte keine Ahnung und das verstärkte seine Verzweiflung nur noch mehr. Er hatte keine Ahnung, wie zum Teufel er ins Jahr 1912 geraten war.
„Kann ich Ihnen helfen Sir?“, hörte er hinter sich die Stimme eines Mannes, „es gibt bestimmt eine bessere Lösung als zu springen.“ Matthew wurde erst jetzt bewusst, wie tief er sich über das Geländer gebeugt hatte. Jemand musste geglaubt haben, er wolle sich in die Themse stürzen! Rasch trat er einen Schritt zurück und sah sich einem Mann etwa in seinem Alter gegenüber, in der Kleidung eines einfachen Arbeiters und mit einem Hut auf dem Kopf. Der Mann musterte ihn immer noch besorgt.
„Mir geht es gut, danke“, antwortete Matthew.
„Sie sehen blass aus. Geht es Ihnen wirklich gut?“, fragte er weiter.
„Doch doch, mir geht es gut“, versuchte Matthew den Mann zu beruhigen, aber er fühlte sich schlapp und müde. Die Sonne war fast am Horizont versunken. Die Southwark Bridge war fest unter seinen Füßen. Es gab kein Zurück, dachte er plötzlich und diese erschreckende Erkenntnis, die jetzt von ihm Besitz ergriff, schnürte ihm den Brustkorb zu und ließ ihn keuchend nach Luft schnappen. Musste er jetzt für den Rest seines Lebens hier bleiben? Hatte er zwanzig gottverdammte Jahre verpasst?
„Ich nun, ich bräuchte eine Unterkunft für eine Nacht. Wissen Sie zufällig, wo ich ein freies Zimmer in der Nähe bekommen kann?“, wandte sich Matthew wieder an den Mann. Das erste, was er brauchte war ein Dach über dem Kopf. Er hatte Geld in seiner Manteltasche, eigentlich für die Reise mit Polly, aber jetzt musste er eine Bleibe für die Nacht suchen. Er hatte nur für eine Sekunde an sein Zuhause in Belgravia gedacht, doch was würde sein Vater sagen, wenn er so unvermittelt vor ihm stünde? Und darüber hinaus verspürte Matthew nicht mehr die Kraft für solch einen langen Weg durch diese fremdgewordene Stadt.
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