„Natürlich Sir, im Sullivan müsste noch was frei sein, die haben immer ein paar Zimmer zu vermieten. Nichts großes, aber wenn es Ihnen reicht. Es ist ganz in der Nähe, gehen Sie einfach…“
„Danke, ich kenne das Sullivan “, sagte Matthew. Es war ein billiger Pub mit ein paar Zimmern unter dem Dach. Keine Absteige für einen Matthew Collins, aber das war vor zwanzig Jahren gewesen. Jetzt war es ihm egal. Er sehnte sich nach einem Bett, wollte nur die Augen schließen und wenn er sie wieder öffnete in seinem großen bequemen Bett am Belgrave Place liegen. Der Mann blickte ihm noch nach als er den Weg zurück lief. Das Sullivan befand sich in der Nähe der Fleet Street. Er war ein paar Mal daran vorbei gelaufen, wenn er Polly besucht oder geschäftlich bei einer der vielen Zeitungen vorbeigeschaut hatte. Betreten hatte er den Pub jedoch noch nie. Die Schenke war im Grunde genommen nicht mehr als ein schmaler Durchgang mit ein paar Tischen auf der linken Seite und dem Tresen auf der rechten. Das Sullivan war gut besucht, alle Tische waren besetzt und auch an der Theke tummelten sich ein paar Männer mit einem Bier in der Hand. Er bahnte sich einen Weg durch den schmalen Pub bis zur Theke und ließ sich auf einem freien Hocker nieder. Der Wirt starrte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Misstrauen an. Trotz der verschmutzten und zum Teil gerissenen Kleidung erkannte er in Matthew einen Gentleman.
„Was darf’s denn sein Sir?“, brummte er und wischte mit einem dreckigen grauen Lappen über seinen Tresen.
„Ich hätte gern ein Zimmer, nur für eine Nacht“, sagte Matthew und hoffte inständig, der Wirt habe noch etwas frei, denn allmählich fielen ihm die Augen vor Müdigkeit zu. Der Wirt grinste plötzlich und auch die Männer neben ihm stimmten in lautes Gelächter ein.
„Hast die Kleine noch nicht mitgebracht? Kommt wohl noch nach, was! Wenn Sie Zeit hat, darf sie gerne auch mal bei mir vorbei schauen“, lachte einer von ihnen spöttisch bis Matthew klar wurde, was sie von ihm dachten. Ärgerlich wandte er sich wieder dem Wirt zu.
„Haben Sie nun ein Zimmer oder nicht?“
„Kommen Sie mit.“ Er schmiss den Lappen beiseite und trottete hinter seiner Theke hervor. Am Ende des Pubs führte eine Holztreppe in das obere Stockwerk und dort in einen schmalen Gang mit vier Türen.
„Hinten rechts ist frei. Macht dann fünf Schillinge die Nacht.“ Der Wirt hielt ihm fordernd die Hand entgegen und Matthew kramte in seinen Taschen nach Geld.
„Wenn’s mal raschelt, keine Sorge. Sind nur die Ratten.“ Er grinste wieder, dann stieg er die Treppe hinab. Der Raum bestand nur aus einem schmalen Bett und einer Kommode, auf der eine Schüssel und ein Krug mit Wasser standen. Es erinnerte Matthew stark an Pollys Wohnung, aber dieser Gedanke schmerzte ihn, sodass er ihn schnell wieder verdrängte. Er legte sich in seinen Klamotten auf das knarrende Bett und starrte an die Decke. Schimmel breitete sich an einer Seite aus und ein merkwürdiger dunkler Fleck direkt über ihm, ließ ihn sich vor Ekel auf die Seite drehen. Das Haus war so hellhörig, dass er das Quietschen eines Bettgestells hinter der Wand gegenüber vernahm und von unten drangen die Stimmen aus dem Pub zu ihm hinauf. Hier lag er also, gestrandet in einer anderen Zeit, allein und ohne Hoffnung, zurückzukehren. Wie er die Sache auch drehte und wendete, er wusste sich keinen Ausweg. Was war in diesen zehn Jahren alles geschehen? Was war aus Polly geworden? Hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt? Und aus seinen Eltern, gab es Collins & Sons noch? Und die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, was war mit ihm selbst? Wenn er im Jahre 1912 war, dann musste er in seiner Zeit plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sein, man würde sich fragen, was aus ihm geworden war. Er drehte sich auf die andere Seite. Es gab eine Möglichkeit, dass alles herauszufinden, schließlich war er immer noch am selben Ort, in London, nur zu einer anderen Zeit. Er könnte ganz einfach nach Belgravia fahren und nachsehen. Was musste sein Vater denken? Vermutlich würde er ihm eine Standpredigt halten, er hätte seine Pflichten als zukünftiger Ehemann und Leiter von Collins & Sons vernachlässigt. Doch das musste Matthew morgen herausfinden. Jetzt überfiel ihn die Müdigkeit und die Anspannung, die er seit seinem Erwachen in sich getragen hatte, wich langsam aus seinem Körper. Mit einem kleinen verkrampften Lächeln auf den Lippen schlief er schließlich ein.
Er stellte sich zu den anderen Menschen in die Schlange an der Haltestelle für einen dieser roten Omnibusse in der Nähe des Pubs. Er war etwas nervös, aber offensichtlich schien fast jeder Londoner mit diesen roten Wagen zu fahren. Er dachte an den Pferdeomnibus, mit dem er in die City gekommen war und wenn er jetzt an diese motorisierten schnellen Dinger dachte, wurde ihm ganz flau im Magen. Trotzdem stand er jetzt hier zwischen zwei Frauen in der Schlange, die sich über ihn hinweg lautstark unterhielten. Matthew hatte am Morgen versucht mit dem Wasser auf seinem Zimmer sein Aussehen einigermaßen wieder herzurichten, die Kleidung glatt zu streichen und den Blutfleck aus seinem weißen Hemd zu waschen. Er war eher mäßig erfolgreich gewesen. Auf seiner Stirn hatte sich über Nacht ein großer unschöner Bluterguss entwickelt, den er nicht einmal mit seinem Zylinder verdecken konnte. Den musste er auf der Brücke verloren haben. Stattdessen hatte er sich das blonde Haar mit den Fingern ins Gesicht gekämmt und war zumindest damit einigermaßen zufrieden. Die Frau in der Schlange vor ihm warf ihm einen kurzen Blick zu, errötete leicht, als sie sah, dass er es bemerkt hatte und drehte sich dann hastig um.
„Verzeihen Sie“, sagte Matthew amüsiert zu ihr, „ist das die Kutsche, ich meine ähm Omnibus in Richtung Westen? Ich muss nach Belgravia.“ Sie weitete etwas überrascht die Augen als sie sich ihm wieder zuwandte, nickte dann aber.
„Ja, er fährt bis zum St James Park, bis dahin sind es sieben Haltestationen. Dort können Sie umsteigen oder den Rest zu Fuß nehmen. Wollen Sie auch zu Harrods?“, fragte sie mit einer lieblichen Stimme. Hinter seinem Rücken hörte Matthew ihre Freundin leise kichern.
„Nun ich…“ Er hatte keine Ahnung was das Harrods war.
„Vom Park aus nehmen Sie dann die Linie drei. Der Bus hält direkt vor dem Eingang. Können Sie gar nicht verfehlen.“ Sie schien den gesamten Fahrplan auswendig zu kennen.
„Danke, aber ich muss gar nicht zum Harolds, ich…“
„Harrods“, verbesserte sie ihn lächelnd, „sagen Sie, ist Ihnen das Kaufhaus kein Begriff? Dann haben Sie wirklich etwas verpasst, stimmt’s Mary?“ Sie beugte sich an Matthew vorbei zu ihrer Freundin, die fleißig nickte.
„Ähm nein tut mir leid.“ Der Omnibus rettete ihn aus dieser peinlichen Lage. Eine Fahrt kostete ihn fünf Pence. Dieser Omnibus war deutlich größer und geräumiger als die kleinen Wagen, die sonst hinter die Pferde gespannt worden waren. Er setzte sich in die zweite Reihe ans Fenster hinter den beiden Freundinnen, die sich immer noch lauthals unterhielten. Unbewusst hielt er sich mit beiden Händen krampfhaft an seinem Sitz fest, als sich der Bus mit einem leichten Ruck in Bewegung setzte. Während der Bus durch die Fleet Street in Richtung Westen fuhr, sah Matthew ein anderes London an ihm vorbei ziehen, ein London, dessen Straßen nicht mehr von Pferden und Kutschen überfüllt waren. Häufig kam ihnen eine Straßenbahn entgegen, die Matthew 1892 nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Er sah Schilder der London Underground an Plätzen, wo zuvor noch keine gewesen waren. In zwanzig Jahren hatte sich so viel verändert, dass er glaubte, diese Zeit niemals aufholen zu können. London war moderner, schneller und lebhafter, als er es sich je hätte ausmalen können. Ein lautes Kichern von der Sitzbank vor ihm, riss ihn aus seinen Gedanken. Die junge Frau hatte sich zu ihm umgedreht und schaute ihn mit glühenden Wangen an. Sie hatte ein rundliches hübsches Gesicht mit kleinen Sommersprossen auf der Nase. Matthews Mutter wäre darüber entsetzt gewesen.
Читать дальше