„Matthew Collins, der verlorene Sohn!“, sagte er gehässig, „ist es wahr, was meine Sekretärin mir erzählt hat! Du bist also zurückgekehrt.“ Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und stellte sich Matthew direkt gegenüber. Seine Augen musterten ihn kühl, nahmen jedes Detail vom Haaransitz bis zur Schuhsohle wahr.
„Hast dich gar nicht verändert“, bemerkte er dann, „immer noch der eitle arrogante Bursche von vor zwanzig Jahren.“
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, gab Matthew knapp zurück, doch er freute sich wirklich. Sein Bruder war noch genauso fies wie eh und jäh, aber er war hier. Und nur das zählte für Matthew in diesem Augenblick.
„Warst du wirklich in Indien, wie Vater mir weismachen wollte? Ich hab gleich gedacht, dass du dich nur drücken wolltest. Und, hatte ich Recht?“ Matthew knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte er ihm die Wahrheit gesagt, aber das konnte er nicht.
„Ich war in Indien, geschäftlich.“ Charles hob skeptisch eine Augenbraue, wandte sich dann wieder um und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder.
„Wo sind Mutter und Vater?“, platzte es aus Matthew heraus, der die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte. Charles holte sich eine Nagelpfeile aus einer Schublade und begann ohne Eile an seinen Nägeln herumzuhantieren.
„Mutter ist tot.“ Es war ein Schlag ins Gesicht.
„Nein!“, rief Matthew entsetzt aus. Er konnte das alles nicht mehr ertragen. Es schien, als würde sich die Zeit gegen ihn wenden. Über Nacht war seine Welt aus den Fugen geraten und hatte ihm all das genommen, was ihm früher etwas bedeutet oder was sein Leben ausgemacht hatte. Wenn dies wirklich die Zukunft war, die ihm unter normalen Umständen bevorgestanden hätte, dann konnte er sich glücklich schätzen, all das Leid und das Elend übersprungen zu haben. Und doch machte es die jetzige Situation nicht besser.
„Doch, sie starb ein Jahr nachdem du fort warst an einer Lungenentzündung. Vater war zutiefst betrübt und hat es nach ihrem Tod nicht mehr zu Hause ausgehalten. War nur noch in der Bank. Irgendwann kam er dann auf die grandiose Idee das Haus zu verkaufen. Er lebt jetzt in Covent Garden“, erklärte Charles seelenruhig. Matthew klammerte sich an die Lehne eines Stuhls, um seine zitternden Hände zu beruhigen.
„Und was ist mit dir?“
„Ich bin glücklich verheiratet mit Penelope Stradden.“ Matthew erinnerte sich an sie, es war das Mädchen aus dem Theater.
„Und Matthew, wo warst du nun wirklich? Mir kannst du es doch erzählen.“ Charles zwinkerte ihm zu, sodass Matthew ihn nur verächtlich anschaute. Seinen Bruder hatte er nie besonders gemocht, vielleicht weil Charles im Stillen seinen großen Bruder immer beneidet hatte. Mr Collins hatte seinen ältesten Sohn verwöhnt, denn schließlich war er es, der eines Tages Collins & Sons übernehmen sollte. Charles hatte sich nie damit abgefunden. Doch jetzt war aus ihm ein regelrechtes Biest geworden, der arrogant auf Matthews Stuhl thronte und damit letztendlich doch das erreicht hatte, was er die ganze Zeit über hatte haben wollte.
„Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich wieder hier bin und auf meinen Platz möchte“, erwiderte Matthew kühl. Charles hatte immer noch dieses verächtliche Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Er legte die Nagelpfeile beiseite und faltete die Hände auf dem Tisch. Dann starrte er seinem Bruder tief in die Augen.
„ Ich sitze jetzt hier, weil du weggegangen bist. So einfach ist das.“ Matthew verlor allmählich die Geduld und die Herablässigkeit seines Bruders und der mangelnde Respekt widerten ihn an.
„Schön“, sagte er schließlich, „das sollte Vater entscheiden.“ Er drehte sich um und wollte aus dem Büro treten, als er hinter sich ein leises Klicken vernahm, das ihn stehen bleiben ließ. Es war das Geräusch eines Abzugs, das Geräusch einer Waffe. Vorsichtig drehte er sich um und sah Charles, der mit einer kleinen Handpistole auf ihn zielte.
„Vater wird nie erfahren, dass sein Lieblingssohn wieder in London ist. Und ich werde nicht zulassen, dass du mir all das wegnimmst, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe. Du hast keine Ahnung, wie hart es war, Vaters Vertrauen zu gewinnen, erst recht, nachdem Mutter gestorben ist. Du hast keine Ahnung, wie viel ich hier geschuftet habe, um diesen Platz zu kriegen. Und jetzt verlangst du von mir, das alles einfach so wieder aufzugeben, wieder den langweiligen Job unten in der Halle zu machen? Oh nein, Matthew, so funktioniert das nicht. Einmal draußen, immer draußen.“ Matthew hatte sich nicht gerührt, sondern blickte in den Lauf der Pistole. War sein Bruder wirklich so verrückt ihn zu erschießen?
„Charles, ich…“
„Du wirst jetzt durch diese Tür gehen und Collins & Sons nie wieder betreten, hörst du? Es wird alles so sein, als seist du nie hier aufgetaucht. Ein Wort zu Vater und ich werde persönlich diesen Abzug betätigen!“ Auf Charles Gesicht bildeten sich rote Flecken vor Aufregung und Wut. Er war entschlossen, seinen eigenen Bruder umzubringen, das konnte Matthew jetzt in seinen Augen ablesen. Ehrgeiz und die Gier nach Größerem hatten ihn verdorben. Langsam ging er einen Schritt nach dem anderen rückwärts auf die Tür zu. Die Pistole war immer noch auf sein Herz gerichtet.
„Lebe wohl Charles“, sagte Matthew und die Abschätzigkeit war deutlich in seiner Stimme zu hören. Dann drückte er die Türklinke herunter und mit einem letzten Blick auf das hasserfüllte Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch verließ er die Bank. Er wusste nicht genau, womit er gerechnet hatte, vermutlich mit einer herzlichen Umarmung, dem Angebot sofort Platz zu nehmen und da weiterzumachen wo er aufgehört hatte, so als wären nicht zwanzig Jahre vergangen sondern eben nur zwei Tage. Es war eigentlich eine lachhafte Vorstellung gewesen. Aber er musste sich darüber im Klaren werden, dass sich diese Zeit nicht einfach so überspringen ließ und dass dies keine Folgen haben würde. Es hatte Folgen. Seine Mutter war an einer Lungenentzündung gestorben, seine Verlobte und Schwiegermutter bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, Collins & Sons heruntergekommen, sein Vater hatte ein gebrochenes Herz und sein Bruder hatte all dies schamlos ausgenutzt. Und Matthew fragte sich, ob dieser tragische Lauf der Geschichte nur aufgrund seines Verschwindens eingetreten war. Es gab keine Antwort auf diese Frage und dennoch fühlte er sich schuldig. Matthew musste sich eingestehen, dass, wenn er nicht zurückkonnte ins Jahr 1892, er gezwungen war ein neues Leben anzufangen. Er stand da, ohne einem richtigen Dach über dem Kopf, ohne Arbeit und ohne Familie. Es war ein kompletter Neuanfang. Diese Gedanken strömten auf ihn ein während er draußen auf den Stufen von Collins & Sons stand und in die Sonne blinzelte. Die Menschen und die Fahrzeuge rauschten an ihm vorbei wie an jedem anderen normalen Tag auch. Doch es war nichts normal, nicht für Matthew Collins.
Er hatte Miss Crowley und Miss Smith versprochen zu der Ausstellung in der National Gallery und der Rede des Königs zu kommen, doch es war weniger das Versprechen, das ihn nun zum Trafalgar Square lockte, als vielmehr der Wunsch dieses neue London kennen zu lernen und vor allem seinen neuen König. Die Angst und die Verzweiflung über sein neues Leben waren einer Neugierde gewichen, die ihn jetzt voll und ganz erfüllte. Matthew war schon ein paarmal in diesem imposanten Gebäude gewesen, obwohl ihn die Kunst nie richtig interessiert hatte. Collins & Sons hatte in den vergangen Jahren eine stattliche Summe für den Erwerb von Gemälden beigesteuert und sein Vater pflegte ein gutes Verhältnis zu Frederick Burton, dem Direktor. Matthew hatte auch einmal die Ehre gehabt ihn kennen zu lernen, doch hatte ihn als einen wenig sympathischen Menschen in Erinnerung. Auf den Stufen vor der Eingangshalle drängten sich die Menschen und berittene Polizisten sorgten für ein einigermaßen geregeltes Durchkommen. An der Kleidung konnte man erkennen, dass es vor allem die gehobenen Bevölkerungsschichten waren, die sich an diesem Tag die Zeit nahmen, den König so nah wie möglich zu sehen. Matthew trug zu seinem neuen Anzug einen Bowler, den er sich auf dem Rückweg von Collins & Sons am gestrigen Tag gekauft hatte, denn ein Mann ohne einen vernünftigen Hut war in seinen Augen auch kein Gentleman und das wollte er immer noch sein. Die Säle waren so voll von Menschen, dass es ein einziges Schubsen und Schieben war, um einen Blick auf die neuen Gemälde zu werfen, die heute zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Es handelte sich hauptsächlich um Werke italienischer Künstler, mit deren Namen er jedoch wenig anfangen konnte. Er schlenderte gemächlich von einem Bild zum nächsten und sah Werke, die er bei seinen damaligen Besuchen noch nicht gesehen hatte. Darum war die Ausstellung für ihn in zweierlei Hinsicht neu. In einem großen Saal am anderen Ende der Gallery war eine Bühne aufgebaut worden und Wachpersonal hatte sich davor aufgestellt. Wenn der König später kam, wurden die Gemälde zur Nebensache. Matthew sicherte sich einen guten Platz im vorderen Drittel und wartete, eingequetscht zwischen einem dickbäuchigen älteren Herrn und einem kleinen Mädchen, darauf, dass der Monarch sich blicken ließ. Plötzlich tippte ihm jemand von hinten an die Schulter und als er sich umdrehte, erkannte er Miss Crowley. Da er zu wenig Platz hatte, um sie anständig begrüßen zu können, murmelte er nur ein freundliches hallo, dass sie mit einem Lächeln quittierte. Miss Smith stand eine Reihe hinter ihr und winkte ihm verhalten zu.
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