„Haben Sie die Venus vor dem Spiegel gesehen? Es ist eines der berühmtesten Werke der Sammlung“, flüsterte sie ihm zu. Er konnte sich schwach an das Bild im zweiten Stock entsinnen und hoffte, dass sie keine Kunstdebatte mit ihm führen wollte.
„Ja das habe ich. Wirklich äußerst faszinierend“, flüsterte er, mit dem Kopf leicht zu ihr geneigt, zurück. Sie kicherte.
„Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber verraten Sie mich nicht“, sagte sie und das machte sie sympathisch und beruhigte ihn ungemein.
„Wissen Sie, worüber der König sprechen wird?“, fragte Matthew neugierig.
„Er wird sicher etwas über Ausstellung sagen und sich bei Mr Holroyd bedanken. Er war es übrigens auch, der die Venus vor dem Spiegel in die National Gallery geholt hat.“
„Mr Holroyd?“
„Der Direktor der National Gallery“, erklärte sie. Matthew nickte verstehend. Scheinbar war Frederick Burton abgelöst worden. Nun, in Matthews Augen stellte dies keinen allzu schmerzlichen Verlust dar.
„Und er wird vermutlich auf die Lage in Europa eingehen, wo doch Deutschland und England am Aufrüsten sind. Ich verstehe nicht viel davon, aber man liest es in den Zeitungen.“ Matthew wollte gerade etwas erwidern, als sich auf dem Podest etwas regte und ein kleiner untersetzter Mann nach vorne trat und sich lautstark räusperte, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen. Dann kündigte er in einer näselnden monotonen Stimme den König des Vereinigten Königreichs Großbritanniens und Irlands sowie Kaisers von Indien an, Georg V. Die Menge applaudierte begeistert als Georg V in einer glänzenden dunklen Uniform mit goldenen Knöpfen und einer goldenen Schulterschnüre vor sie trat. Er trug einen wuchtigen Schnauzer und kurzes braunes Haar. Das kleine Mädchen neben Matthew kreischte vor Freude und zupfte dem Mann zu ihrer Linken, von dem Matthew annahm, dass es sich um ihren Vater handelte, aufgeregt am Jackenärmel. Matthew sah seinen König nun zum ersten Mal und doch kam er ihm auf eine seltsame Art bekannt vor, er wusste nur nicht warum. Er glaubte diesen Mann schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Langsam ließ der Applaus nach und die Menschen wurden ruhig, um den Worten ihres Königs zu lauschen. Georg V hatte eine tiefe ruhige Stimme, die in dem großen Saal gut zu hören war. Wie Miss Crowley vermutet hatte, bedankte er sich bei Mr Holroyd für die Ausstellung und betonte den unschätzbaren Wert der National Gallery für die Erhaltung der Kunst. Doch es waren nicht diese Worte, für die die Menschen und die Presse gekommen waren, sondern die über die politische Lage, die viele in Unruhe versetzte. Das Deutsche Reich hatte seit einigen Jahren angefangen aufzurüsten und kein Geheimnis daraus gemacht, dass man expandieren wolle. Die britische Regierung sah dies mit größtem Argwohn und voller Sorge. Die Triple Entente müsse darauf reagieren, erklärte der König und das werde man auch tun. Die englische Flotte solle weiter ausgebaut und Gespräche mit Kaiser Wilhelm II geführt werden. Und dann sagte er etwas, dass Matthew den Atem nahm.
„Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Europa sich von diesen Lasten befreit, die es auf seinen Schultern trägt. Und wenn es dazu kommt, ist Großbritannien bereit.“ Es waren keine hetzerischen oder besonders aggressiven Worte, doch Matthew hatte das Gefühl, dass er nur eines meinen konnte: Krieg. Er wusste nicht, wie es um die Welt bestellt war, welches Verhältnis Großbritannien zu Frankreich oder dem Deutschen Reich hatte, aber diese Worte beunruhigten ihn. Er drehte sich zu Miss Crowley um, die bleich geworden war. In der Menge begann ein Gemurmel, die Herren steckten die Köpfe zusammen und begannen zu diskutieren. Ohne lange zu überlegen löste er sich aus der Menge und zog sie mit sich. Sie folgte ihm ohne ein Wort und ließ sich von ihm nach draußen vor die National Gallery ziehen. Als er ihr ängstliches Gesicht im Sonnenlicht sah, wusste er, dass er Recht gehabt hatte. Der Frieden war angespannt, zum Zerreißen. Doch es ließ sich nicht sagen, ob es eine Sache von Monaten oder Jahren war, bis sich die Spannungen entladen würden. Von drinnen hörten sie jetzt lautes Klatschen, jubelnde Rufe und Schreie.
„Würden Sie mich noch einmal zu einem Tee begleiten?“, fragte sie leise und daraufhin bot er ihr seinen Arm an, um sie von dem Gedränge wegzuführen. Sie fanden ein kleines gemütliches Café etwas abseits in einer Seitenstraße. Auf dem Weg dorthin hatte sie kein Wort gesagt. Jetzt saßen sie sich gegenüber und er bestellte eine Kanne Tee für sie beide sowie ein Stück Kuchen.
„Mein Vater hat gegenüber meiner Mutter davon gesprochen, dass ein Krieg die einzige Lösung sei, um die Deutschen in die Schranken zu weisen“, erzählte sie plötzlich, blickte aber auf ihre Tasse vor sich. „Er sagte, die Deutschen seien zu arrogant und zu fordernd und dass wir aufpassen müssen, um unsere Stellung in der Welt nicht zu gefährden. Und er sagte, dass dann all die Ungerechtigkeiten in unserem Land vorbei wäre, die Ungleichheit in der Gesellschaft.“ Sie blickte hoch und er sah ihre Angst und Verzweiflung. Er wollte etwas sagen, um sie zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Vernünftiges ein. Stattdessen sagte er: „Sie interessieren sich für Politik?“ Ein mattes Lächeln huschte auf ihre Lippen.
„Mehr als für Kunst. Obwohl es sich für eine Dame nicht gehört, sich für Politik zu interessieren. Sind Sie auch der Meinung Mr Collins?“
„Man soll nie den Verstand einer Frau unterschätzen. Das hat meine Mutter immer gesagt, wenn mein Vater ihr nichts von seinen Geschäften erzählen wollte. Und ich finde, dass trifft auch auf die Politik zu.“
„Sie sind seltsam Mr Collins“, sagte sie auf einmal nach einer Weile, in der sie stumm ihren Kuchen gegessen hatten. „Sie kennen das Harrods nicht, sind offenbar noch nie mit einem Omnibus gefahren und auch von der Rede des Königs wussten sie nichts, obwohl es in allen Zeitungen stand.“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich noch nie Omnibus gefahren bin?“, fragte er grinsend. Sie zuckte mit den Schultern.
„Man merkt es einfach. Kommen Sie nicht aus London?“ Er überlegte, was er darauf antworten sollte. Die Wahrheit kam nicht in Frage, auch wenn Miss Crowley ihm als eine moderne aufgeschlossene Frau erschien, so würde sie es nur als einen Scherz interpretieren. Also blieb Matthew bei der Geschichte, die sein Vater erfunden hatte.
„Ich war lange Zeit im Ausland, geschäftlich. Ich hatte in Indien zu tun und bin erst vor kurzem zurückgekehrt. Wenn man in Indien mitten in der Wildnis unter Tigern und Elefanten ist, dann fährt man selten Omnibus.“ Er brachte sie zum Lachen und sie schien ihm die Erklärung abzunehmen. Mit Miss Crowley konnte man sich ungezwungen unterhalten und Matthew genoss die Zeit in dem kleinen Café mit ihr, weil es ihn von der Welt draußen ablenkte, die ihm so fremd vorkam. Und doch dachte er an eine andere, wenn er ihr in die Augen blickte: Polly Perkins. Matthew hatte Angst, wenn er sich vorstellte, was wohl aus ihr geworden war, denn bis jetzt schien sein altes Leben eine schlechte Wendung genommen zu haben. Aber die Sehnsucht nach ihr und der Wunsch sie aufzusuchen war größer als die Furcht selbst. Miss Crowley erzählte derweil von ihrer Familie, von ihrem Vater, der als leitender Aufseher in einer der Fabriken im Osten der Stadt arbeitete und damit zwar mehr Geld verdiente als die meisten anderen, aber trotzdem kritisch der Ungleichheit im Land gegenüberstand. Das Geld hatte ihre Mutter mit in die Ehe gebracht. Sie war die Tochter eines angesehenen Regierungsmitglieds und war aufgrund ihrer nicht standesgemäßen Ehe zwar von ihm verstoßen worden, aber er unterstützte sie immer noch. Es handelte sich offensichtlich um einen der wenigen Fälle, in denen die Vaterliebe stärker war als die Angst unter dem Druck der Gesellschaft zu zerbrechen. Matthew wünschte sich einmal mehr, sein Vater hätte dieselbe Stärke besessen. Miss Crowley teilte sich jetzt eine Wohnung mit ihrer Freundin Miss Smith in Spitalfields und arbeitete als Krankenschwester im Royal London Hospital. Sie hatte die Stellung freiwillig angenommen, denn ein Leben, das nur aus den Entscheidungen bestand, welches Kleid man heute anziehen könnte und welche Kekse zum Tee gereicht werden sollten, lag ihr fern. Sie legte ihm in diesem Café ihr halbes Leben offen und Matthew hörte interessiert zu, denn ihre einfache humorvolle Art erinnerte ihn an Polly und das war es, was er an ihr mochte. Nicht das steife unechte Lächeln einer Susan Wentworth oder der anderen Frauen aus der gehobenen Gesellschaft. Als Matthew die Rechnung bezahlte, musste er sich eingestehen, dass er nicht ewig mit dem Geld aus seiner Manteltasche auskommen würde. Und seine Hoffnung, bei seinem Vater bei Collins & Sons wieder da einzusteigen, wo er aufgehört hatte, war durch das unschöne Klicken eines Abzugs beendet worden. Matthew brauchte dringend ein festes Einkommen, doch da er sein Leben lang nie Geldsorgen gehabt hatte und immer mit der Aussicht aufgewachsen war, später neben seinem Vater in der Geschäftsleitung zu sitzen, war ihm diese neue Situation völlig fremd. Als Miss Crowley von ihrem Vater erzählt hatte, war ihm jedoch eine Idee gekommen.
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