„Haste noch Lust auf ein Bier?“, fragte Jimmy, der direkt hinter ihm stand. Matthew zuckte zunächst mit den Schultern, was ihm üble Schmerzen verursachte und nickte dann.
„Ich kenn auch nen besseren Pub als den ollen Jack.“ Jimmy verwuschelte sich die roten Haare, die in dicken Locken vom Kopf abstanden. Als Matthew endlich an der Reihe war und vor Joe trat, der ihn immer noch abschätzig anblickte, sagte dieser: „Morgen selbe Zeit, selber Ort. Anweisung vom Chef.“ Jimmy, der offenbar mitgehört hatte, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Da haste Glück, ist sowas wie ne Jobgarantie. Sowas kriegen nur Leute, die fleißig arbeiten oder ein Stein im Brett beim Chef haben.“ Matthew wusste, dass er diese Arbeit nur Miss Crowley zu verdanken hatte und nicht seiner besonderen Begabung oder seinem Fleiß. Aber das sagte er nicht laut, denn er erinnerte sich an die Reaktionen der Männer vor dem Pub. Solche Leute wie er, die nur über gute Beziehungen an die wenigen Arbeitsplätze kamen, waren nicht gut angesehen, nein, mehr als das, sie waren verhasst. Und er konnte es ihnen nicht mal übel nehmen. Matthew fühlte sich verschwitzt, dreckig und erschöpft als er mit Jimmy und Angelo in einen Pub am Hafen einkehrte, sich in einer Ecke niederließ und sich neben dem Bier auch etwas Warmes zu Essen bestellte. Seine Hände, die ohnehin noch nicht ganz verheilt waren von dem merkwürdigen Zwischenfall auf der Southwark Bridge, hatten wieder angefangen zu bluten und er wischte sie an der Hose ab. Der Pub war mit Hafenarbeitern nur so überfüllt. Scheinbar war es Sitte nach getaner Arbeit ein Bier zu trinken oder sich richtig zu betrinken, um das ganze verdreckte Leben zu vergessen, das die meisten im East End führten. Matthew kannte diese Leute aus dem Ten Bells, aber hier mitten unter ihnen zu sitzen, war etwas anderes. Er trug nicht seinen feinen Mantel und Zylinder, draußen warteten nicht Bernie und die Kutsche und er war nicht der Gentleman, auf den die Frauen zuliefen und an dessen Tisch sie sich setzten. Er war nicht mehr als das Gesindel um ihn herum. Jimmy hob seinen Bierkrug und stieß mit ihm an.
„Also dann Matthew, auf deine neue Stelle. Glaub mir an Hinke-Joe gewöhnt man sich.“
„Hinke-Joe?“
„So nennen wir ihn. Er ist missmutig, schlecht gelaunt, arrogant, kurz gesagt ein Scheißkerl, aber er ist fair.“
„Wie hat er sich die Verletzung zugezogen?“
„Weiß nicht genau, war ein Arbeitsunfall, soviel steht fest. Aber der alte Crowley hat ihn als Aufseher behalten. Soviel Glück muss man erstmal haben.“
Matthew, der halb am Verdursten war, stürzte sein Bier in zwei großen Zügen hinunter.
„Warum hast du keine Lehre als Tischler gemacht?“, fragte er Jimmy irgendwann. Der zuckte mit den Schultern.
„Naja, angefangen hab ich ja, das zählt doch auch schon mal, ne? Hab Mist gebaut, da ham se mich rausgeschmissen.“ Matthew musste an Charles denken, der häufig Mist gebaut hatte und sein Vater war jedes Mal vor Wut an die Decke gesprungen, aber hinausgeworfen hatte er ihn nie. Matthew konnte es sich nicht vorstellen, wie es war, plötzlich auf der Straße zu stehen und von vorn anfangen zu müssen. Aber eigentlich, gestand er sich ein, wusste er es inzwischen doch. Jimmy war ein wirklich netter aufgeweckter Bursche und er erinnerte Matthew ein wenig an Marty, der vermutlich genauso sein würde wie Jimmy, wenn er älter wäre. Marty. Er musste jetzt auch ein junger Mann sein, sogar älter als Matthew selbst. Was wohl aus ihm geworden war? Hatte er es geschafft aus dem East End rauszukommen, sich von seinem Vater zu lösen? Matthew hoffte es inständig, aber recht dran glauben konnte er nicht. Es waren schmerzliche Erinnerungen an die letzten Tage, die in diesem Moment auf ihn einprasselten und er musste sich beherrschen, um nicht einfach in Tränen auszubrechen. Warum hatte es gerade ihn getroffen? Warum nicht irgendjemand anderen? War er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Oder war es sein Schicksal in jener Nacht auf der Southwark Bridge in die Zukunft gerissen zu werden? Plötzlich kam ihm das Bild der Gestalt mit dem Gehstock wieder in den Sinn, die eilig auf ihn zugelaufen, aber dann gestürzt war. War sie es gewesen, die an seiner statt auf der Brücke hätte sein sollen? Oder war sie ihm einfach nur zur Hilfe geeilt, weil er geschrien hatte? Letzten Endes war es auch egal, denn er saß hier fest und kein anderer.
„Alles gut Matthew?“ Jimmy hatte seinen traurigen Gesichtsausdruck bemerkt. Matthew nickte und erhob sich. Er hätte nie gedacht sich einmal auf die harte Matratze in seinem Zimmer zu freuen, aber jetzt gerade wünschte er sich nicht sehnlichster als einfach die Augen zu schließen und in seinen Träumen zu versinken. Jimmy winkte ihm fröhlich nach als er den Pub verließ.
Am nächsten Morgen hätte er beinahe verschlafen, wenn der Wirt nicht lautstark an seine Tür geklopft hätte. Matthew war dem brummigen Mann mehr als dankbar und schlüpfte in Windeseile in die übergroßen Klamotten. Es waren dieselben zwanzig Männer wie am gestrigen Tag, die vor dem kleinen Pub am Hafen auf Hinke-Joe warteten, wie ihn Matthew jetzt auch im Stillen nannte. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, waren noch feindseliger, aber nur der Umstand, dass der Aufseher jeden Moment aufkreuzen und sie bei einer Schlägerei sehen könnte, hielt sie davon ab Matthew in die Mangel zu nehmen. Als Hinke-Joe auftauchte mit seinem Klemmbrett unter dem Arm und der Zigarette im Mund, war es für Matthew ein vertrautes Bild, obwohl es schließlich erst sein zweiter Tag war. Das Leben der einfachen Bevölkerung war eben eintönig und schlicht. Und so wurde Matthew neben Harry, Robert, Fynn und John als erstes aufgerufen und konnte ohne Furcht die Auswahl der anderen beobachten. Joe würdigte ihn keines Blickes und das war Matthew deutlich lieber als noch der hämische kalte Ausdruck von gestern. Jimmy und die anderen vier warteten bereits vor der Halle und begrüßten ihn gutgelaunt. Es erschien Matthew seltsam, wie sie nach all den Jahren immer noch jeden Morgen fröhlich hier stehen konnten. Doch die meisten wirkten nicht annähernd so wie die vier. Grimmige verhärmte Mienen, Flüche, laute Befehle und die dumpfen Geräusche aus den Fabriken waren das eigentliche Bild, das die Gegend prägte. Matthews Arme und Schultern schmerzten immer noch und seine Hände hatte er mit einem alten Leinenstoff umwickelt, damit die Wunden nicht ein zweiten Mal aufplatzten. Alles in allem erwartete er von der ersten Sekunde an sehnlichst den Gong zur Mittagspause und nach dem Mittag den Gong zum Feierabend. Am Abend forderte ihn Jimmy wieder auf mit in den Pub zu gehen und Matthew, der zwar müde und geschafft war, sich aber freute in Jimmy einen netten Kollegen kennengelernt zu haben, folgte ihm erneut in die Wirtsstube. Er hatte das Gefühl heute war es noch voller als am vorherigen Abend und auf seine Nachfrage hin erklärte Jimmy, dass jeden Dienstag die hübsche Mary auf dem Klavier spielte und dann waren die Männer natürlich noch betrunkener und noch fröhlicher. Bei dem Namen Mary musste Matthew an die Kellnerin aus dem Ten Bells denken und als er schließlich in derselben Ecke wie zuvor Platz nahm und durch die grölenden Männer hindurch zum Klavier blickte, erkannte er tatsächlich ihren braunen Lockenkopf und die schmale Taille. Er musste zugeben, sie war etwas grau geworden und ihre Taille war nicht mehr ganz so schlank, aber eine Augenweide war sie immer noch. Es war auszuschließen, dass sie ihn nach all den Jahren wiedererkannte, aber da er es nicht drauf ankommen lassen und unangenehme Fragen aus dem Weg gehen wollte, beschränkte er sich darauf am Tisch sitzen zu bleiben während Jimmy laut singend durch den Pub lief und mit einem anderen Mann ein Ständchen schmetterte. Matthew musste laut lachen bei dem Anblick der beiden und als Jimmy ihn sah, lief er auf ihn zu und zerrte Matthew zu sich in die Mitte des Raumes.
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