„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber jetzt da ich wieder hier in London bin, brauche ich eine feste Arbeit“, sagte er daher zu ihr. Sie schaute ihn verwundert an.
„Können Sie nicht da arbeiten, wo Sie vor ihrer Indienreise waren?“, fragte sie unschuldig.
„Nun, es gab ein paar Komplikationen“, erklärte Matthew mit einem gezwungenen Lächeln.
„Ich muss gestehen, ich habe nicht viel Erfahrung in Bezug auf harte oder körperliche Arbeit, aber als sie erwähnten, dass Ihr Vater Aufseher in einer der Fabriken am Fluss ist…nun, vielleicht wissen Sie, ob dort eine helfende Hand benötigt wird?“ Miss Crowley überlegte kurz, dann sagte sie: „Ich frage meinen Vater. Irgendetwas ließe sich bestimmt einrichten. Ich kann ein gutes Wort für Sie einlegen, wenn Sie möchten.“ Matthew dankte ihr erleichtert und dann schrieb sie ihm auf die Serviette den Namen der Firma auf, bei der ihr Vater tätig war.
„Melden Sie sich in ein paar Tagen bei Rupert Crowley, so heißt mein Vater. Ich werde in der Zwischenzeit mit ihm reden.“
Mit dem Gefühl, endlich etwas erreicht zu haben, verabschiedete er sich von ihr. Im Sullivan bat er den Wirt darum noch ein paar Tage das Zimmer im oberen Stockwerk behalten zu dürfen, obwohl die Nächte auf der harten Matratze und der Lärm aus den Nebenzimmern ihn nur selten zum Schlafen brachten. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, bis er mit etwas Geld vielleicht ein oder zwei Zimmer irgendwo in der Nähe mieten konnte.
Als Miss Crowley den Namen der großen Fabrik im East End an der Themse aufgeschrieben hatte, hatte Matthew zunächst gestutzt und sich gefragt, wie viele Zufälle im Leben es wohl geben müsste. Aber eigentlich glaubte er nicht an Zufälle, sondern vielmehr an das Schicksal. Es handelte sich um eines der Lager von Wentworth Industries, die ankommende Schiffe aus aller Herren Länder, gefüllt mit exotischen Früchten, Stoffen und Gewürzen, abluden und je nach Empfänger verpackten. Matthew wusste aus den Erzählungen seines ehemaligen Schwiegervaters, dass die Arbeit am Hafen hart, dreckig und undankbar war und dass der Tageslohn eines Hafenarbeiters bei weitem nicht reichte, um auf Dauer eine Familie zu ernähren. Aber Matthew hatte keine Familie mehr, er hatte nur sich selbst und als er jetzt im Halbdunkeln seines Zimmers auf den Zettel starrte mit den Wörtern Wentworth Industries, Halle 5, East End , musste er an die vielen Fahrten mit Bernie in dieses verruchte Viertel denken. Niemals hätte er sich vorstellen können hier zu arbeiten geschweige denn zu leben, aber im Jahr 1912 war so vieles anders, als er es gewohnt war und so erschien ihm selbst die Aussicht in der dreckigen zerlumpten grauen Montur der Hafenarbeiter schwere Kisten durch die Docks zu schleppen nicht mehr als etwas völlig ungewöhnliches. Hinter der Wand gegenüber seines Bettes vernahm er das rhythmische Quietschen des Bettgestells und das Stöhnen einer Frau, aber er hielt sich nicht mehr die Ohren zu wie in der ersten Nacht. Auch hieran hatte er sich wohl oder übel gewöhnt. Er schwang sich noch einmal aus dem Bett und zog die verblichenen Vorhänge vor die Fenster. Dann legte er sich wieder auf die harte Matratze und schloss die Augen. Er hatte einen seltsamen Traum und das schlimmste daran war, dass er Polly sah, die ihm aus der Ferne zuwinkte, aber er konnte sie nicht erreichen. Er versuchte sich zu ihr durch zu kämpfen durch eine Art Sumpf, der ihn immer wieder in die Tiefe zog. Am nächsten Morgen wachte er schweißgebadet auf und musste sich mehrmals einen Schwall kalten Wassers durchs Gesicht spritzen ehe er halbwegs bei Sinnen war. Matthew nahm das Frühstück unten in der Wirtsstube ein. Es war kein Festmahl und nicht annähernd das, was er gewohnt war, aber es reichte, um den Magen für ein paar Stunden zu füllen und das Hungergefühl zu bekämpfen.
Das East End hatte sich auch 20 Jahre später nicht sonderlich verändert. Der Gestank nach Abfall, Industrie und Urin ließ ihn den Hemdsärmel vors Gesicht schlagen, doch wirklich helfen konnte er nicht. Er hatte sich vom Wirt ein altes Baumwollhemd und eine graue löchrige Hose geliehen, die ihm so weit war, dass er sie nur mit Mühe mit einem Gürtel halten konnte. Aber den teuren Anzug von Harrods konnte er schließlich unmöglich hier anziehen. Dicker Qualm stieg aus den langen Schornsteinen der Fabriken in der Nähe der Docks. Wentworth Industries war nur eine von zahlreichen Firmen, die sich am Hafen angesiedelt hatten, aber sie zählte mit Abstand zu den größten. Matthew hatte die Nachricht erhalten sich an diesem Montagmorgen in aller herrgottsfrüh vor dem Pub Captain Jack einzufinden und dort auf einen Aufseher von Wentworth Industries zu warten. Als Matthew vor dem Pub eintraf, tummelten sich dort schon um die 20 Männer, von jungen Burschen von vielleicht höchstens 16 Jahren bis zu älteren Männern mit grauen Haaren. Als Matthew zu ihnen trat, wurde er misstrauisch beäugt und man tuschelte über ihn ohne sich die Mühe zu machen leise zu reden. Matthew war ein Fremder, der sich in ihre Reihen mischte und das schien ihnen nicht zu behagen. Schon bald würde er erfahren, warum ein neues Gesicht nicht gern gesehen wurde. Matthew hatte keine Ahnung, warum er hier vor dem Pub warten sollte, der im Übrigen eher eine dunkle Spelunke war und das Sullivan im Vergleich hierzu wie ein nettes kleines Café wirkte. Aus der offenen Tür drangen laute Stimmen und der Geruch nach alten Zigaretten. Plötzlich torkelten zwei Männer Arm in Arm laut johlend aus der Tür mit je einem Glas Bier in der Hand. Sie kamen direkt auf Matthew zu und schubsten ihn unsanft zur Seite.
„Mach mal Platz Bursche“, lallte einer von ihnen und stieß Matthew grob zur Seite.
„Hey! Prügelnde nehm ich nicht mit“, bellte auf einmal jemand in die Menge und augenblicklich verstummten die Männer und rückten weit ab von Matthew und den beiden Betrunkenen. Ein Mann in einem dunkelblauen Overall bahnte sich seinen Weg zum Pub, in der Hand ein Klemmbrett und eine Zigarette zwischen den Zähnen. Er hatte helles Haar, das platt an seinem Kopf klebte und er zog das linke Bein seltsam nach, als wäre es steif.
„Bei mir gibt’s keine Schlägereien, verstanden?“, schnauzte er Matthew an, dann wandte er sich an die wartenden Männer, die sich in der Zwischenzeit in einer Reihe dicht an dicht aufgestellt hatten.
„Willste nun dazu oder nicht? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und Matthew, der nicht wusste, was hier geschah, stellte sich mit verblüffter Miene an das Ende der Reihe. Die Betrunkenen wankten an seine Seite, konnten sich jedoch kaum aufrecht halten. Einer von ihnen hielt sich an Matthews Schulter fest, den das Ganze zwar anwiderte, der sich jedoch nicht traute den Mann abzuschütteln.
„Also Freunde, großes Handelsschiff aus Asien, etwa zweihundert Kisten Tee müssen abgeladen und ins Lager gebracht werden. Noch Fragen? Ne…also dann ich brauch zehn Männer. Harry, Robert, Fynn und John ihr schon mal.“ Vier von ihnen, gut gebaute junge Burschen, lösten sich aus der Schlange und stellten sich hinter dem Mann auf, von dem Matthew inzwischen annahm, dass es sich um den Aufseher von Wentworth Industries handeln musste. Jetzt ging dieser einen Schritt auf die Reihe zu und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen jeden Einzelnen von ihnen.
„Wo is denn Rupert?“, fragte er während sein Blick auf Matthew ruhte.
„Den hat’s bei der Explosion letzte Woche drüben in den Surrey Docks erwischt. Hat seinen rechten Arm verloren“, antwortete der Bursche namens Robert. Matthew musste hart schlucken. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber bestimmt nicht dies. Er hatte schon öfter in den Zeitungen gelesen, dass Unfälle in den Docks passierten und nicht selten jemand dabei ums Leben kam, aber diese Schlagzeilen waren immer zu weit weg gewesen, um ihn wirklich berührt zu haben. Jetzt stand er also hier und war kurz davor in eben jenen Fabrikhallen zu arbeiten, die dunkel, feucht und voller Ratten waren. Der Aufseher deutete jetzt mit seinem dreckigen Zeigefinger auf einen Mann nach dem anderen, der sich aus der Reihe löste und mit einem zufriedenen Grinsen in den kleinen Kreis der Auserwählten trat. Matthew verstand nun, warum er hier war und warum man ihn so feindselig betrachtete. Mit ihm verringerte sich die Chance jedes Einzelnen für den heutigen Tag Arbeit zu bekommen und damit das Geld, das sie so dringend brauchten. Vermutlich gab es noch andere Treffpunkte, aber wenn sie hier abgewiesen worden waren, war es vermutlich längst zu spät, um noch woanders sein Glück zu probieren. Matthew hatte kein Glück, der Aufseher ging ohne ein Wort an ihm vorbei. Es war nicht so, dass er nicht kräftig war, aber offenbar sah man ihm an, dass er körperliche Arbeit nicht gewohnt war. Der Aufseher notierte sich die restlichen Namen auf seinem Klemmbrett und schmiss dann seinen Zigarettenstummel auf den Boden.
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