»Was hast du nur getan, Liebes?«, fragte sie, wohlwissend, dass sie keine Antwort erhielt. Titania schloss die Augen und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf.
Als Helen die Augen öffnete, sah sie die winterliche Sonne in ihrem Wohnzimmer. Das Geschehene von letzter Nacht wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Sie prüfte kurz ihre Umgebung. Es schien bereits das Tageslicht, das Feuer war erloschen und sie konnte Titanias Handtasche neben dem Sessel erkennen. Der Teekessel in der Küche pfiff in diesem Moment in einem hohen Ton in der Küche. Sie hielt sich mit ihrer rechten Hand ihr rechtes Ohr zu, das Linke war durch das Kissen, auf dem sie lag, geschützt. Allmählich fiel es ihr wieder ein: die Kugel, die Melodie, das gleißende Licht. Langsam nahm sie die Hand vom Ohr und starrte ungläubig auf ihr rechtes Handgelenk. Was dort prangte, war die Zeichnung eines Mistelzweiges. Filigran und gerankt zog sich die Pflanze in schwarzen Linien um das Gelenk. Sogar über ihren Pulsadern sah sie länglichen, gezackten Blätter, die sich in Zweigen verästelt. Unter einigen Blättern waren sogar die kleinen Beeren zu sehen.
Schlagartig richtete sie sich auf. »TITANIA, irgendwas stimmt hier nicht!« Hastig befeuchtete sie ihren linken Daumen an ihrer Zunge und rieb heftig über den schwarzen Mistelzweig. »Titania McAllister, komm´ sofort her!« Wenn sie ihre Bewusstlosigkeit ausgenutzt haben sollte, um sich mit einem Edding-Stift die Langeweile zu vertreiben, wäre das alles andere als lustig.
»Klopf, Klopf. Bist du schon wach?«, fragte Titania zaghaft durch die angelehnte Tür hindurch.
»Ja, sonst würde ich wohl kaum nach dir rufen, oder?«, entgegnete ihr Helen. »Wieso redest du mit mir überhaupt durch die Tür? Hast du mir etwas zu sagen?«, fragte Helen halb im Scherz und halb ernst.
»Also weißt du Helen, wenn du es schon ansprichst: ja. Aber du darfst dich jetzt nicht aufregen oder durchdrehen. Versprich mir das.«, kam es zögerlich von Titania von der anderen Seite der Tür. »Versprich es mir, hörst du?«, wiederholte sie.
Helen erhob sich von der Couch und ging zur Tür, im Gehen versuchte sie immer noch verzweifelt die Farbe von sich abzubekommen. »Titania, sei nicht albern. Welche Farbe hast du benutzt?« Sie zog die Tür zum Flur auf und blickte kurz von ihrem Handgelenk auf, nur um gleich wieder ihre Aufmerksamkeit auf diese hartnäckige Farbe zu richten. Sie hielt kurz inne. Irgendwas war anders an ihrer Freundin. Ihr Blick musterte sie von unten nach oben. »Wieso hast du spitze Ohren? Führst du in deiner Handtasche neuerdings Scherzartikel mit dir?«
Auf die Antwort war sie jetzt wirklich gespannt. Sie war ja schon so einiges gewohnt von ihr, aber auf Schabernack hatte sie wenig Lust. Titania folgte ihr ins Wohnzimmer.
»Helen, Darling«, sie klang seltsam angespannt, »die sind nicht künstlich, die sind echt.« Sie schaute ihr betreten in die Augen.
»Hör´ jetzt auf mit dem Unsinn.« Helen machte einen Schritt auf sie zu und zog an Titanias linkem Ohr. »Nimm diese verdammten Ohren endlich ab. Dein Verhalten ist einfach nur kindisch.«
Doch so sehr sie auch zog, sie wollten sich nicht lösen lassen. »Au au au, Helen bitte, du tust mir weh!« Helen erstarrte vor Schreck und ihr Mund stand offen, ihre Hand umfasste immer noch das Ohr. Titania sagte mit sanfter, aber bestimmter Stimme: »Flipp. Jetzt. Bloß. Nicht. Aus.«
Vorsichtig griff sie nach Helens Hand und löste sie von ihrem gerötetem Ohr. Ihre Freundin starrte sie weiterhin fassungslos an, unfähig, auch nur ein Wort heraus zu bringen.
»Ich kann dir fast alles erklären. Tee?« Eine Tasse Tee beruhigt immer. Unsicher, was sie jetzt machen sollte, zog Titania ihre Freundin auf die Couch und saß ihr zugewandt zu Helens Linken. »Jetzt glotz mir nicht mehr auf die Ohren, das ist unhöflich!« Erst jetzt löste sich Helen aus ihrer Starre und die Worte kamen zurück.
»Entschuldigung, das wollte ich nicht. Bist du krank? Wo kommen dir Ohren her? Oder bin ich noch bewusstlos? Ja, das muss es ein. Ich bin noch bewusstlos und träume.« Sie legte die Handfläche ihrer linken Hand um eine Teetasse. Ein überwältigender Schmerz durchfuhr ihre Hand. »Ahh, verdammt, heißheißheiß.« Helen zog ruckartig ihre Hand weg und pustete kühlend darauf.
»Jetzt lass den Blödsinn bleiben. Du träumst nicht. Ich muss dir jetzt wohl die Wahrheit sagen. Bist du bereit?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Ich befürchte nicht.« Titania nahm sich ein Kissen vor dem Bauch und knetete es, als müsste es dringend massiert werden.
»Also, wo fang ich denn am besten an? Oh Gott, so muss das sein, wenn man seine Kinder aufklären muss.«
»Titania, bitte. Was ist hier los? Ich erinnere mich an die Kugel von gestern Abend. Da kam diese seltsame Melodie heraus, dann wurde ich ohnmächtig. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hattest du komische Ohren und ich DAS hier am Handgelenk!« Zum Beweis reckte sie ihren rechten Arm nach oben, die Hand zur Faust geballt. Titania betrachtete den Mistelzweig an dem Handgelenk und zog dabei eine Augenbraue argwöhnisch nach oben.
»Entschuldigung. Helen, erinnerst du dich an den Turmbau zu Babel?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass eine Historikerin wie Helen das selbstverständlich wusste.
»Natürlich. Laut Bibel versuchten die Menschen, einen Turm zu bauen, der bis zu Gott heranreichen würde. Erzürnt über diese Anmaßung bestrafte er sie mit verschiedenen Sprachen. So konnten sie sich nicht mehr verständigen und der Turmbau konnte nicht fortgeführt werden«, erzählte Helen mit geschlossenen Augen. Das tat sie meistens, wenn sie sich beim Erzählen konzentrieren musste.
»Ja, das stimmt soweit«, pflichtete ihr Titania bei. »Aber da ist noch nicht Schluss. Es wird sich weiterhin erzählt, dass eine gewisse Obrigkeit, nennen wir sie Gott, nicht nur die Sprachen auf die Welt schickte. Es gab damals großen Streit unter allen Lebewesen. Menschen, Elfen, Feen, Orks und noch viele mehr. Die Menschen maßten sich an, ungerecht über andere Spezies zu richten. Anstatt in Frieden zu leben, versuchten sie, alle anderen auszurotten. Der Turm zu Babel sollte nicht nur dazu dienen an Gott heran zu reichen, er sollte als riesige Kerkeranlage für alle dienen, die keine Menschen waren. Also entsandte Gott nicht nur die Sprachen, sondern auch die Blindheit. Seit dem Tag an war kein Mensch mehr in der Lage, andere Wesen wahrzunehmen, die nicht zu der Klasse der Menschen gehörte. Gott machte euch Menschen blind für uns. Zumindest erzählt man es sich so.«
»Titania, ehrlich, das klingt wahnsinnig. Ist dir das klar?« Helens Verstand spielte gerade verrückt. Am liebsten hätte sie ihre Freundin gefragt, ob Drogen mit im Spiel sind. Allerdings rückten dann wieder diese zierlichen, aber relativ langen Ohren in ihr Blickfeld und sie konnte die Existenz dieses Körperteils nicht abstreiten. »Mal angenommen ich glaube dir den Blödsinn für einen Augenblick. Was bist du dann?« Helen bereute diese Frage sogleich, denn das Wörtchen Was schien ihr politisch absolut inkorrekt. »Bist du die Königin der Feen?« In diesem Moment hätte sie gar nichts mehr überrascht. Innerlich bereitete Helen sich auf Titanias Antwort vor und kniete gedanklich schon vor dem Thron einer Königin, von der sie bislang nichts wusste. Obwohl es Titanias Wohlstand durchaus logisch erklären würde.
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