Unweit des Friedhofs setzten sie sich in ein kleines Café. Diese Umgebung erdrückte ihn schier. Die Tische standen eng beisammen und die Sitzfläche der Stühle war unangenehm klein. Die Kellner schienen hier alle unnatürlich gut gelaunt zu sein. Jeder frostige Blick eines Gastes wurde mit dem breitesten Lächeln beantwortet, was ein Mensch nur hervorbringen kann. In der Auslage im Schaufenster verführte der Anblick von glänzenden Kuchen und Torten die vorbei gehenden Passanten. Wer konnte im Januar schon zu einem Stück Erdbeertorte Nein sagen? Die Kulisse einer verträumten französischen Patisserie wirkte beinahe tadellos.
Völlig gedankenverloren hörte er Helen sagen: »Owen, haben Sie mir überhaupt zugehört?«
»Ja, Entschuldigung … natürlich. Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stammelte er.
»Prima, dann nehmen Sie also auch eine Tasse Earl Grey«, sagte Helen und gab sofort die Bestellung auf. Die junge Bedienung mit spanischem Akzent verschwand augenblicklich im hinteren Bereich des Lokals, nachdem sie sich lächelnd für die Bestellung bedankte. Keine drei Minuten später kam sie mit dem Tee zurück.
Erneut schwiegen sie sich über zwei dampfenden Teetassen an. »Also«, eröffnete Helen das Gespräch, »was wollten Sie mir erzählen?«
Gespannt beobachtete sie, wie Owen unruhig auf dem Stuhl umher rutschte.
»Wir fanden bei Ihrem Bruder einen Zettel. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir die Bedeutung erklären.« Owen suchte in der Innentasche seines Jacketts nach der Kopie des Zettels, während Helen an ihrer Tasse Tee nippte, den sie ohne Milch und Zitrone genoss. Er räusperte sich kurz und begann vorzulesen:
»Die Melodie ist der Schlüssel. Es gibt Leute, die töten dafür! Die Geschichten sind alle wahr. Sie werden mich sicher kommen holen. Aber ich habe es versteckt. Suche an dem Ort, den ich am meisten hasse.«
»Was meinte Ihr Bruder damit? Wir können uns keinen Reim darauf machen.« Owen schaute Helen unverwandt an. Er wollte keine ihrer Reaktion verpassen. Ein Zucken oder ein Blinzeln konnte bereits ein erstes Anzeichen von Schuldigkeit sein, das hatte er in Verhören schon oft erlebt. Es war seine letzte Chance, eine vermeintliche Mörderin zu überführen. Joshua Sterling war schließlich das, was man am ehesten als wohlhabend bezeichnen konnte. Er besaß ein Haus in einem der besten Stadtteile Londons, sein Konto war gut gefüllt und es gab nur eine Erbin laut Testament: Helen Sterling. Seine Schwester, die wie aus dem Nichts auftauchte und nach kürzester Zeit aufgrund eines angeblichen Unfalls finanziell ausgesorgt hat.
Mit großen Augen sah sie den Polizisten an. »Das soll mein Bruder geschrieben haben? Das ergibt doch keinen Sinn! Hören Sie, Owen, mein Bruder war kein Verrückter. Weder schien er sonderlich musikalisch begabt, noch befand er sich auf irgendeinen albernen Miss-Marple-Trip. Es war ein verdammter Unfall. Ich weiß auch nicht, wer sich hier mit diesem schwachsinnigen Zettel einen Spaß erlaubt. Was wollen Sie mir als Nächstes erzählen? Dass Sie sicher sind, er wurde von Außerirdischen entführt? Lassen Sie mich mit Ihren albernen Theorien in Ruhe!« Ihr Gesicht verfärbte sich allmählich rot vor Zorn.
Owen knallte mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt, Sie kannten den Kerl doch überhaupt nicht! Aber Sie fanden schnell heraus, dass er vor Geld stank. Und Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, es wäre ein Unfall gewesen? Er lernt seine einzige Schwester kennen, macht sein Testament und fällt mit 39 Jahren tot die Treppe runter?! Die Scheiße nehme ich Ihnen nicht ab.« Beide sahen sich für wenige Sekunden stumm an. »Helen bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, beschwichtigte Owen sie. Er hatte es gerade ein bisschen übertrieben mit seinen Anschuldigungen, und das wusste er auch. Helen sprang vom Stuhl auf, sodass dieser mit einem lauten Geräusch an den dahinter stehenden Tisch stieß. Hastig zog sie ihren schwarzen Mantel über.
»Sie treten mir nicht zu nahe, Owen. Sie quälen mich. Joshua ist tot, er stolperte und fiel die Treppe runter. Lassen Sie es endlich gut sein und hören Sie auf, mich zu belästigen.« Sie warf eine Zwanzig-Pfund-Note auf den Tisch und verließ das Café. Ohne zurückzublicken hielt sie das nächstbeste schwarze Taxi an und ließ einen zerknirschten Seargent King zurück.
Endlich angekommen gab sie dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Der Tag war düster, kalt und nass. Es graute ihr davor, in das große, fremde Haus alleine zurückzukehren. Zumindest würde Sherlock auf sie warten, der Kater ihres Bruders. Bei Joshuas Anwalt war ein Testament hinterlegt, in dem Helen als Alleinerbin aufgeführt wurde. Sie zog vor einer Woche hier ein, mit festen Willen herauszufinden, wer ihr Bruder war. Sie wohnte bis dahin in einem schäbigen Apartment in Wimbledon. So war es für sie auch einfacher, sich auf die Beerdigung und sonstigen Behördengängen zu kümmern. Das Reihenhaus in der Westbourne Terrace war ein weißes Gebäude, welches um 1840 erbaut wurde. Die insgesamt vier Etagen waren äußerst luxuriös eingerichtet. Sieben Schlafzimmer, mehrere Bäder, eine Terrasse mit Blick auf’s Grüne, ein Heimkino. Helen hätte in ihrem Job als Stadtführerin gefühlte tausend Jahre arbeiten müssen, um sich dieses Haus leisten zu können. Als Historikerin war es nicht einfach, in London einen Job zu finden. Sie schlug sich mit geführten Touren durch. Ob die musikalische Seite Londons, auf den Spuren Jack the Rippers oder die üblichen Sehenswürdigkeiten. Helen konnte stundenlang den Touristen die Schönheiten dieser Stadt erklären. Und das tat sie auch. Abends schmerzten ihre Füße vom vielen Gehen. Das viele Stehen schadete ihrem Rücken gleichermaßen. Alles, was sie abends wollte, war ein heißes Bad und eine Flasche Rotwein. In ihrer alten Wohnung unter dem Dach gab es nur heißes Wasser, wenn kein anderer Mieter es gerade benötigte. Im Winter wickelte sich Helen in mehrere Decken, um nicht zu erfrieren. Im Sommer wurde es unter dem Dach unerträglich heiß. Ihre beste Freundin vermutete, dass bald zwei Hobbits kämen, um DEN Ring in ihre Wohnung zu werfen.
Das heiße Wasser zu jeder Tages- und Nachtzeit in dem neuen Haus war absoluter Luxus, den sie mit schlechtem Gewissen genoss.
Aber heute schaffte sie es einfach nicht allein in dieses Haus. Stattdessen schrieb sie ihrer besten Freundin eine Nachricht und ging die Straßen runter zu ihrem Lieblingspub The Swan , direkt gegenüber vom Hyde Park. Vorbei an all den weißen Fassaden und den schwarz gestrichenen Zäunen. Vorbei an den Türen, die Reichtum und Wohlstand verbargen. Der Streit mit Owen ärgerte sie immer noch. Vielmehr ärgerte sie sich aber, dass sie so ausgerastet ist. Was denkt sich der Kerl überhaupt? Es kostete sie schon ihren Job bei der Agentur. Gleich nachdem Owen dort auftauchte, um sich über ihr Verhalten bei Arbeit und möglichen Beschwerden zu erkundigen, musste sie zu ihrem Boss. Boris erklärte ihr in seinem unverständlichen Mix aus Englisch und Russisch, dass die Kunden sich nicht wohlfühlten, wenn man gegen Helen ermittle. Boris war ein schmieriger, geldgeiler Grobian, den nur die Zahlen interessierten. Sie bemühte sich vergebens, ihn von neuen Ideen für Führungen zu überzeugen. In ihren Augen war er ein unverbesserlicher Kulturbanause.
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