Um sich etwas abzulenken, zählte sie die geparkten Porsche am Straßenrand. Bei Nummer 12 hörte sie auf zu zählen. Denn der Letzte gehörte ihrer Freundin Titania. Helen betrat den Pub und hörte sofort ihren Namen. »Helen, Liebes! Wie geht es dir? Komm‘, setz dich zu mir. Du bringst die Probleme mit und ich den Alkohol, das ist eine klare Arbeitsteilung.«
Bevor Helen sich versah, saß sie neben ihrer Freundin mit einem Pint Bier in der Hand. Titania konnte man am ehesten als Naturgewalt bezeichnen. Klein, blond und so scharfzüngig, dass sie dafür einen Waffenschein bräuchte. Titanias Mutter war Schauspielerin und dementsprechend freigeistig erzog sie ihre einzige Tochter. Auch ihrem Vater war es daran gelegen, seinem einzigen Kind alle Möglichkeiten zu geben.
Als sie sich am ersten Tag an der Uni trafen, stellte sich Titania ihr wie folgt vor: »Titania, Königin der Elfen, Leidgeprüfte ihres Namens, Herrscherin über 7 Kreditkarten. Und du bist?«
Helen antworte ebenso schlagfertig: »Helen, Sterling wie Pfund, Königin des Pubs und Herrscherin über des letzten freien Platzes im Hörsaal.« Darüber mussten beide so sehr lachen, dass sie augenblicklich von Professor Lockhart raus geworfen wurden. Seit diesem Zeitpunkt waren sie die besten Freunde.
Müsste Helen ihre beste Freundin mit zwei Worten beschreiben, träfe perfekt gestylt es am ehesten. Titania würde nicht ohne ihre geliebten High Heels und ohne die teuerste Markenkleidung ihr Luxusapartment verlassen, wenn es lichterloh brennen würde. Nun saß sie vor ihr, die wachen, fragenden Augen vollkommen auf Helen gerichtet.
»Mir geht’s gut, danke Titania.«
»Sei ehrlich Helen.«
»Mir geht es gut. Wirklich.«
»Sei ehrlich.«
»Naja, es geht so.«
»Ganz ehrlich, Helen.«
»Beschissen. Zufrieden? Mein Bruder, den ich bis vor wenigen Wochen nicht mal kannte, liegt begraben unter der Erde. Dieser Seargent King denkt sich ständig neue Verschwörungstheorien aus und ich habe Angst vor dem leeren Haus. So, jetzt weißt du es.« Mit verschränkten Armen schaute sie ihre Freundin trotzig an.
Titania legte seufzend den Arm um ihre beste Freundin. »Honey, welche neue Theorie hatte denn Sergeant Sexy?«, dabei warf sie ihre langen blonden Haare gekonnt zurück. Selbst Titanias Haare dufteten nach kostbaren Pflegeprodukten, an dieser Frau war alles luxuriös.
Helen atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Letzte was sie wollte, war ein Heulanfall mitten im Pub. »Er zeigte mir einen angeblichen Zettel von Joshua. Auf dem stand, dass alle Geschichten wahr wären, man Joshua holen kommen würde und man da suchen soll, was er hasst. Ach ja, und das die Melodie der Schlüssel wäre.«
»Was willst du mit dieser schwachsinnigen Theorie anfangen?«, fragte sie Helen und stellte ihr Bierglas ab.
»Keine Ahnung. Ich solle an dem Ort suchen, den er am meisten hasst.« Obsessiv kratzte sie mit dem Fingernagel an der Oberfläche des Bierdeckels.
Titania legte den Kopf schief und überlegte. »In meinem Fall wäre das Primark.« Helen musste unwillkürlich lachen. »Du würdest nicht mal für Geld eine Filiale von Primark betreten.«
»Ein T-Shirt für drei Pfund muss vom Teufel hergestellt sein. Das sollte man nicht als Kleidung bezeichnen dürfen, ich fordere offiziell ein Verbot. Apropos, Süße, was hältst du davon, wenn wir in den Urlaub fahren? Nur du und ich. Weit weg, vielleicht Marbella? Da gibt es tolle Partys und das Wetter ist sicher besser als hier. Wir könnten doch gleich los. Paddington ist doch gleich um die Ecke.«
»Danke, das ist lieb von dir. Aber ich kann Sherlock nicht alleine lassen. Er gewöhnt sich gerade an mich. Im Übrigen würde ich mich schäbig fühlen. Heute begrabe ich ihn und morgen liege ich am Strand. Nein, wirklich nicht. King kann sich seine Theorien sonst wohin stecken.« Helen strich sich die Haare hinter die Ohren und fühlte sich immer mehr von dem zunehmenden Lärm im Pub genervt. »Ich habe mir jetzt genug Mut angetrunken und werde nach Hause gehen.«
»Halt!«, rief Titania und sprang auf. Helen schaute sie mit großen rehbraunen Augen an. So nervös kannte sie ihre Freundin nicht.
»Weißt du was, Darling? Ich komme mit. Du solltest nicht alleine da rein gehen. Das ist doch das Mindeste. Außerdem kann ich jetzt eh nicht mehr fahren.« Wie zum Beweis tippte sie mit ihren perfekt manikürten Nägeln an ihr leeres Glas.
Helen lächelte matt. Der Gedanke, dass sie nicht allein sein musste, war tröstlich. Titania ging an ihren Kofferraum und nahm ihre Notfalltasche heraus, in der sie für unvorhersehbare Ereignisse Kosmetik und Kleidung dabei hatte. Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und schritten langsam die belebte Straße entlang. Aus den Pubs drang laute Musik. Laute Stimmen, die wild durcheinanderredeten und lachten, vermittelten eine ausgelassene Stimmung. Obwohl es erst gegen 19 Uhr war, umgab sie eine beginnende Dunkelheit. Die Kälte biss erbarmungslos im Gesicht und sie beschleunigten ihre Schritte allmählich.
Helen fühlte sich überfordert. Einerseits wollte sie endlich nach Hause. In die Umgebung, in der sie sich ihrem Bruder nahe fühlte. Zum andern hatte sie Angst vor dem Unbekannten. Joshua war noch überall in dem Haus präsent. Seit seinem Tod hat sie sich noch nicht in sein Arbeitszimmer getraut. Allein wenn sie die Hand auf den Türknauf legte, überfiel sie die Trauer. Obwohl sie ihn kaum kannte, war er für sie der Bruder, den sie sich immer wünschte.
Am Haus angekommen, zog Helen den Schlüssel aus ihrer Manteltasche. Ihre Finger fühlten sich so klamm an vor Kälte, dass sie das Metall kaum spürte. Mit einem leisen Knarren gab die Eingangstür Helens Druck nach und öffnete sich. Wie in einen dunklen Schlund starrte sie in den Eingangsbereich des Hauses, das aus heiterem Himmel ihr Zuhause war. Das Gefühl von Endgültigkeit überkam sie schlagartig und sie bekam keine Luft mehr. Wie ein Fisch an Land schnappte sie nach Luft und hielt sich am Türrahmen fest. Titania legte von hinten wortlos ihre Hand auf Helens Schulter. Mit dieser Geste brach Helens letzter Schutzdamm. Die Tränen liefen ihr unkontrolliert über das Gesicht, aus ihrem Mund stieß sie einen nicht hörbaren Schrei aus. Die Trauer schlug mit voller Wucht zu. Titania zog instinktiv Helens Arm um ihren eigenen Hals und half ihr dabei, nicht auf den kalten Boden zu sinken.
»Ssschhhsch, ist schon in Ordnung. Lass es ruhig raus.« Sie half ihrer trauernden Freundin in das Haus und stieß mit einem Fuß die schwere Tür hinter sich zu. Unter großer Kraftanstrengung zog sie Helen über den schmalen Flur in das Wohnzimmer und ließ sie und sich selbst auf die große dunkelbraune Ledercouch sinken. Dort saßen sie beide in fast völliger Dunkelheit, die nur ab und an von den Scheinwerfern der vorbei fahrenden Autos unterbrochen wurde. Titania konnte in ihrer Hilflosigkeit nichts anderes machen, als Helen wie bei einem Kind über den Kopf zu streicheln und beschwichtigende Worte zu sagen.
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