Auf diesen Volksglauben, beziehen sich nun die wunderbarsten Sagen. Und neuere Poeten schöpfen hier die Motive ihrer schönsten Dichtungen.
Heinrich Heine (1853)
Früh durfte auch ich es entdecken: In der Welt der Sagen um das geheimnisvolle Leben in der Schöpfung gibt es keine Grenzen von Zeit und Raum. Schon als Kind vernahm ich sie mter den letzten Nomaden und den Ziegenhirten und Bergbauern des Alpenlandes: Die lebendige Sage um all die tiergestaltigen Bergkobolde und die Wasserfrauen, die an Seen und Bächen ihre Heilkräuter behüten.
Meine nahen Verwandten, die noch an den Ufern des Schwarzen Meers geboren waren, erzählten mir ungefähr die gleichen Geschichten: Sie waren nur noch bunter, ursprünglicher und wurden als wahr empfunden. Ich lernte, daß die Bücher der alten Griechen uns erlauben, diese übereinstimmenden Vorstellungen bis in die graue Urzeit zurückzuverfolgen.
Wie entstanden diese Geschichten, wie werden sie in allen Jahrhunderten wiedergeboren? Der Römer Lukrez, ein erklärter Jünger der griechischen Philosophie, versuchte es uns vernünftig zu erklären: Den herrlichen Gestalten aus den uralten Göttersagen hätten die Vorfahren «ewiges Leben verliehen».
Sie mußten dies tun, weil diese Bilder zu allen Zeiten «unter der gleichen Gestalt den Menschen erscheinen»: Unveränderbar und übereinstimmend waren diese wunderbaren Begegnungen - im Wachen, «häufiger doch noch im Traume».
Wie diese Geschichten des Lebens in der Natur stattfinden, besingt auch Plato, der König der griechischen Philosophen, in seinen Gedichten. Er schildert unsere Wahrnehmung der Wunder unserer Umwelt, wiederum auf der schmalen Schwelle zwischen Wachen und Schlaf. Er fordert uns auf:
«Wanderer, lege Dich nieder am Fuß der ragenden Fichte. Horch der Zephyr umspielt ruhelos das schauernde Laub...»
Wenn der sanfte Abendwind leise weht, vernimmt man deutlicher das Murmeln der Quelle. In dieses mischt sich auf einmal der Klang der Flöte des Ziegengottes Pan, die Syrinx. Jetzt ist auch nach Plato die Stunde, da der Mensch den großen Reigen wahrnimmt: Den Tanz, den «mit jungem, blühenden Fuße» die Nymphen vollführen, die die Beschützerinnen der Wälder und reinen Gewässer sind...
Von wo überall kommen diese Bilder, die das Volk bis heute wie einen Schatz bewahrt? Die unglückliche österreichische Kaiserin Elisabeth (Sissi) erzählte auf der Insel Korfu ein Märchen - sie will es von einer einheimischen Hirtin vernommen haben. Es habe seit Ewigkeiten im Weltraum einen «Stern des Glücks» gegeben: «Wie wunderbar war er! Die Menschen waren auf ihm gleich den lichten Göttern, die Euch (sterblichen Erdbewohnern) die schöpferischen Träume eingaben, sie in weißen Marmor zu verkörpern.» Trümmer dieses ParadiesSterns, damit auch die Erinnerungen an seine Welt, fielen auf die Inseln im Mittelmeer. Man fühlt dies noch in der ganzen Natur, auch in den im Volk erhaltenen Resten der uralten Kultur: «Hörst Du diese Lieder? Fühlst Du diese Luft, durchtränkt von der Liebe?»
Wir versuchen ebenfalls den Liedern und Geschichten nachzugehen, die aus der Welt solcher Ahnungen und Stimmungen entstehen. Wir werden dabei ebenso auf liebenswürdige Träume stoßen wie auf geheim weiterlebende Ängste des Urmenschen. Eines ist sicher: Unser Planet Erde wird uns bei diesen Betrachtungen als immer vielschichtiger, rätselhafter und nie völlig erforschbar erscheinen.
Erinnerungen an das Paradies
Bei einem volkstümlichen Kunstmaler sah ich die Reste eines Himmelbettes, anscheinend bemalt von einem Handwerker aus dem Tirol. Die ersten Menschen, Adam und Eva, waren darauf abgebildet, umgeben vom Kreis der sie liebevoll anblickenden Tiere.
Dieses Werk, ungefähr von 1850, zeigt uns, wohin ganz offensichtlich die Menschen in ihren erholsamen Träumen am liebsten «gingen». Sie glaubten, daß unsere Seele durch die ewig blühende Natur wandert und vom himmlischen Schöpfer selber in die Geheimnisse aller Wesen eingeführt wird: «Wenn man im Schlaf das Paradies schaut, bedeutet dies in den darauffolgenden Tagen Glück und Gesundheit.» Auch dies las ich in einem alten handschriftlichen Traumbuch.
Die Menschen, die so dachten, haben zweifellos in diesem Sinn sämtliche Geschöpfe ihrer Umgebung behandelt. Findet sich nicht in den talmudischen Schriften der Juden eine Überzeugung, die auch eine Meinung der Urchristen wiedergab: «Paradies» ist demnach ein Wort, ein Sinnbild für die ewige «Gnosis», also das unvergängliche Urwissen: «Des Baumes der Erkenntnis wegen, der dort (im Paradies) steht.»
Die Bewunderung, das Lernen von Tieren ist nach der großen Überlieferung nicht nur das hervorstechende Merkmal des paradiesischen Zeitalters. Die entsprechende Einstellung zu den Wesen in unserem Umkreis zeichnet auch später sämtliche vorzüglichen Menschen, ja ganze Völker aus. Sie näherten sich alle in ihren schöpferischen Zeiten einen Schritt dem Garten Eden und seinen vielfältigen Bewohnern: Dies bewirkte, daß der Mensch, wenn er sich an diese Kulturen erinnert, auf seine lange Geschichte berechtigten Stolz zu empfinden vermag.
Wiederum nach den jüdischen Überlieferungen umgab der ägyptische Pharao seinen Herrschersitz mit wilden Löwen. Nur derjenige vermochte ihm also zu nahen, der durch Magie die Zuneigung der tierischen Wüstenkönige erwarb. Doch Moses konnte, dank dem besonderen Schutz des Schöpfers, ungehindert durch die unbestechlichen Wächter gelangen. Sie näherten sich ihm sogar voll Zärtlichkeit, ganz als wären sie alle freundliche Miezekätzchen: Hängt die Tatsache, daß das Königsgeschlecht Juda einen Löwen als stolzes Sinnbild besaß, irgendwie mit solchen Sagen aus der Frühgeschichte zusammen?
Es gibt aus dem 15. Jahrhundert ein einzigartiges Gemälde des vorbildlichen Menschen David, der vom tierfreundlichen Hirten zum glänzenden König emporstieg. Er spielt seine Harfe in einer Landschaft, die uns wiederum an den Garten Eden erinnert. Es ist ein grüner Wald. Nur Tiere, ein Hirschrudel und ein Hase, sind die aufmerksamen Zeugen und Zuhörer seiner hohen Kunst.
Meiner Großmutter verdanke ich die Volkslegende von Odessa am Schwarzen Meer: «David und Salomo gelten auch als Vorbilder christlicher und islamischer Könige. Dies, weil sie nicht nur zu den Menschen und ihren Reichen schauten. Sie sorgten auch für das zahme und wilde Getier.»
Auch die Griechen, deren Leistungen an der Wiege von Europa standen, begannen ihre glänzende Geschichte mit dem großen Helden und Sänger Orpheus. Er soll das Wesen der Schöpfung verstanden haben! Noch lange wurde eine Reihe von Weisheiten einer heiligen, «orphischen» Naturwissenschaft auf ihn zurückgeführt. Er soll die Geheimnisse der Gestirne verstanden haben und damit die Kräfte, die im Leben aller Tie re sichtbar werden: Die Kunstwerke zeigen ihn häufig im Kreis der Geschöpfe aus Wald und Flur. Durch die himmlischen Töne, die er seiner Harfe entlockt, versinken sie alle in den Zustand der Seligkeit. Die frühen Christen sahen hier geradezu ein Bild, das bereits ihren Heiland verkündete und pries.
Teilweise auf den sagenhaften Orpheus, den die Tiere der Waldberge ebenso liebten wie die hohen Götter, führten die Griechen bekanntlich ihre «Mysterien» zurück. Die Menschen, die hier in die überlieferten Geheimnisse eingeführt wurden, mußten darüber ein tiefes Schweigen bewahren. Dies taten sie auch! Kaum, weil hier Dinge geschahen, derer man sich irgendwie zu schämen brauchte: Diejenigen, die sie nicht nach langen Vorbereitungen selber mitmachten, hätten die Berichte der «Eingeweihten» niemals richtig zu begreifen vermocht.
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