Der Dichter und Märchensammler Musäus hat sich im 18. Jahrhundert besonders mit den Nymphensagen auseinandergesetzt. In seiner Geschichte Der geraubte Schleier will er nach bestem Gewissen aus der einheimischen Tradition geschöpft haben. Eine bedeutende Rolle spielen darin die Ausführungen des magiekundigen Naturwissenschaftlers und Arztes Theo-phrast: Das ist kein anderer als der berühmte Theophrastus Paracelsus.
Musäus kannte zweifellos einige Schriften von diesem Mann, der ein wichtiges Werk Über die Nymphen verfaßte. Im übrigen ist dieser Naturphilosoph, der sich so viel mit dem Sinn der alten Überlieferungen befaßte, gerade in unserem Alpenraum selbst zur Sagengestalt geworden. So ist heute nicht genau zu bestimmen, was Musäus in seinem Geraubten Schleier gelehrten Schriften oder mündlichen Erzählungen verdankt.
Der große Theophrastus erklärt also einem liebeskranken Ritter: «Die alten Volkssagen von einem Göttergeschlecht, das ehemals in Griechenland hauste, ist kein Traum der Phantasie, obwohl die Poeten viel Fabelei und Lügen dreingemengt haben...» Es seien dies alles Berichte über ein wunderbares Geschlecht von ätherischen Luftgeistern. Gemeint sind Wesen, die über den irdischen Menschen standen. Sie lebten in den oberen Regionen der Atmosphäre, und man nannte ihr feinstoffliches Reich den Olymp.
«Sie lebten mit den Menschen vormals in traulicher Eintracht und sichtbarer Gemeinschaft.» Sinnbild für eine solche Verbindung ist die schöne Wasserfrau Leda, die sich in ihrem Bade mit dem lichten Schwan vereinigt: Ihre weibliche Nachkommenschaft sei bis heute mit der Gabe ausgestattet, unter gewissen Umständen das leichte Federkleid ihrer Ahnen zu besitzen.
Die Erben der Leda, dieses Feen- oder Nymphengeschlecht, «machen nicht wie die übrigen Menschenkinder nackend ihren Eintritt in die Welt»: Ihr zarter Leib ist mit einem Schwanenkleid bedeckt, das nur die Kenner wahrnehmen können. Es ist dies ein «luftiges Gewand, aus verdichteten Lichtstrahlen des Äthers gewebt». Es dehnt sich mit dem Wachstum des Mädchens entsprechend aus und besitzt «alle Eigenschaften der reinsten Feuerluft, die irdische Körper schwere zu überwinden».
Die Anlagen der sagenhaften Schwanenfrauen sollen durch die Zeit unzerstörbar sein. Auch im «tausendsten Gliede», das wäre also fast nach dreißig Jahrtausenden, soll ein Tropfen «ätherischen Blutes» genügen, um sie wieder sichtbar werden zu lassen! Feenhafte Eigenschaften hatte zum Beispiel die Heldin der Musäusgeschichte Zoe, die tatsächlich wie eine echte altgriechische Schönheit wirkt. Es können aber auch ganz andere, schwer erkennbare Merkmale sein: Die Wohlgestalt des Wuchses, ein besonderer Blick der Augen, die vollkommene Wölbung d es Busens, eine bezaubernde Stimme. Es kann auch die besondere Fähigkeit des Witzes sein oder sonst eine einzigartige Kunstfertigkeit.
Die uralte Nymphenanlage der Leda läßt also den ganzen Leib von einer besonderen Lebenskraft durchstrahlen. Doch die dauerhafte Schönheit, die sie in jedem Fall verleiht, bleibt den meisten Frauen verborgen. Es sei denn, sie besinnen sich der Lebensweise der Nymphen und benützen besondere Gesundheits- und Schönheitsquellen in der freien Natur. Besuchen sie diese regelmäßig, entfaltet sich in ihnen eine fast unzerstörbare Jugend, die Heiterkeit und Schönheit ihrer Urmütter.
Solche Nymphenquellen fand die Sage nach Musäus an verschiedenen Orten. Eine soll am Fuß des Araratgebirges im Kaukasus liegen. Eine andere in Abessinien, dort wo der heilige Nil seinen Ursprung hat. Im Erzgebirge befinde sich eine bei Zwickau, wo das Volk ein Schwanenfeld und einen Schwanen-teich kennt.
Solche Sagen und gedruckte Dichtungen bildeten noch im 18. Jahrhundert die Grundlage des bunten Treibens um die heil-, gesundheits- und Schönheitsbäder. Wie die Kunstwerke in ihrem Umkreis beweisen, überlebte hier tatsächlich der Nymphenglaube fast bis in unsere Gegenwart.
Das Liebesspiel von Daphnis und Chloe
Die Sagen von Nixen, Nymphen und Russalken sind in einer Beziehung übereinstimmend: Die Wassermädchen traf man als Menschenfrauen oder auch in ihrer leuchtenden Schwanengestalt nur in einer paradiesischen Umwelt an.
In der Dichtung von Petronius, den ich in der Nachdichtung von Wilhelm Heinse benütze, wird ein solcher Ort geschildert: «Wo alles war, was die Natur dem Menschen zur Augenweide hervorgebracht hat.» Solche Plätze galten im gesamten Altertum als besonders geeignet für das Glück des Menschen.
Es wird uns auch ausführlich erklärt: «Für verliebte Seelen ist der Ort gemacht!» Quellen entlassen ihre Wellen plätschernd durch die Blumenwiesen; Nachtigallen, diese Musikanten des Liebesgottes Amor, singen in den Büschen: «Nymphen schleichen, um sie nicht zu stören, in die kühlen Grotten...» Es ist für sie noch berückender, auf die Singvögel zu hören als auf den Klang der Sternensphären, deren kosmischen Klängen sich die griechischen Mystiker und Philosophen hingegeben haben sollen.
Die Orte der Russalken, also der einheimischen Nymphen, werden in den Überlieferungen der Ostslawen ganz übereinstimmend geschildert. Sie befanden sich, wie es noch meine Mutter als kleines Mädchen erlebte, gerade in den waldigen Ufergegenden der ukrainischen Flüsse: Hier spielten und sangen in warmen Nächten, wenn der Mond aufging, die Dorfmädchen. Den Nymphen, ihren Beschützerinnen, opferten sie Blumenkränze. Ein Zeuge, der sie zufällig wahrnahm, wußte niemals so richtig: Waren es Menschen aus Fleisch und Blut oder echte Wassergeister? Der große antike Dichter Ovid beginnt sein Werk Metamorphosen mit dem schönklingenden Vorwort: «Leiber, in andre Gestalten verwandelt, will ich besingen.» Diese Welt, in der sich alles verändern konnte, alles möglich war, ist für die Griechen die Welt der Nymphen.
Der Dichter Longus, von dessen irdischem Dasein wir nichts wissen, beginnt seine Schilderung eines Heiligtums der Nymphen folgendermaßen: «Schon der Hain an sich war prächtig. Ein dichter Baumbestand, viele Blumen und viel Wasser, ein einziger Quell speist Blumen und Bäume.» In dieser paradiesischen Umgebung gibt es auch eine Reihe von Bildern, die das darstellen, was nach Ansicht der Nymphen den einzigen Sinn jedes Zeitalters ausmacht: Eine beispielhafte Liebesgeschichte.
Die Folge der Darstellungen, die das Abenteuer eines Liebespaares zeigte, vermehrte den Ruhm des heiligen Platzes. Gerade hier erkennen wir die hohe Eigenart der griechischen Kultur, die stets Natur und Kunst vereinigte, um so Gefühl und Verstand des Menschen gleichermaßen zu entzücken. «Es (das dargestellte Bilderbuch der Liebe) zog denn auch viele Fremde herbei, die sich nach einem Gebet zu den Nymphen daran erfreuten.»
Longus, der als Jäger an den Ort kommt, versucht nun aus dem zeitlosen Inhalt der Geschichte eine Dichtung für seine Gegenwart zu gestalten: «Ich arbeitete alsdann vier Bücher aus, als Weihegaben für Eros (den Liebesgott), für die Nymphen und für Pan, und als einen Freudenschatz für alle Menschen. Ja, dies (Werk) wird den Kranken heilen, den Bekümmerten trösten...»
Der Glaube an die Nymphen enthält die ganze Naturreligion und die Lebensweisheit der Ziegen- und Schafhirten. Man weiß, daß es die Nymphen seit jeher gibt und daß sie die ursprünglichen Menschen beschützen: «Ein weitverbreitetes Geschlecht sind die Nymphen. Da sind die Quellnymphen, die Baum- und die Sumpfnymphen, und alle sind sie schön, und alle singen sie.»
Eine mächtige Gestalt dieses Traumreichs ist Pan, selbst ein Tiermensch, ein halber Ziegenbock, und gleichzeitig ein großer Musikant, ein Meister des Flötenspiels. Von ihm kommt offensichtlich die Tiermagie der halbwilden Stämme: So kann er unter ihnen einen eigenartigen Rausch erzeugen, so daß sie sich gleich wilden Wölfen aufführen.
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