Die einen Menschen können ganz bestimmten Tieren nahestehen, die anderen weisen uns aber auf ganz andere Beziehungen. Hildegard erklärt uns in ihrem Buch «Über die Tiere», diesem Edelstein unter den Werken der mittelalterlichen Schilderungen unserer Schöpfung: «Die Gedanken des Menschen, der einem sagt: Du bist dieses oder jenes Tier, kommen daher, daß die Tiere etwas in sich haben, das der Natur des Menschen ähnlich ist.»
Hier haben wir eine Urweisheit, die wir auf mannigfaltige Art durch die verschiedenen Völker verfolgen können. Wenn man den Nomaden, zum Beispiel den Erzählern der Zigeuner, glaubt, suchen die Menschen «stets das Land, das ihrem von Gott erschaffenen Wesen entspricht». Die Fahrenden ziehen, wenn ihr Stamm sein Ursprungsland verloren hat, so lange durch die Welt, bis sie eine Umwelt finden, die sie in jeder Beziehung anregt.
Der bekannte Zigeunerhäuptling Zanko, den ich noch selber in Lyon kennenlernen durfte, stammte von den rumänischen Kesselflickern (Khalderasch): Er schildert, wie sein in Frankreich eingewandertes Volk gerade das uralte Heiligtum von Saintes-Marie in der Camargue hoch verehrt, weil es hier an seine in allen alten Sagen gepriesenen Uferländer am Schwarzen Meer erinnert wird.
«Es ist falsch, uns als heimatloses Gesindel zu beschimpfen», hörte ich von einem Vertreter der Sinti-Zigeuner, «wir sind immer auf der Heimatsuche. Auch die Ahnen aller Seßhaften waren so. Sie müssen Gott täglich dafür danken, daß ihre Vorfahren nach vielen Abenteuern ein Land fanden, das ihnen vollkommen entsprach.» Vergißt ein Volk die lebendige Zuneigung zu einer bestimmten Umwelt, auch dies ist Zigeuner-Philosophie, «dann hängt es immer weniger an ihr. Langweilt es sich in seiner Heimat, findet alles in ihr eher schädlich und lästig, wird es spielend von anderen Völkern verdrängt. Ein Land gehört immer denen, die es von Herzen lieben, mit ihm sozusagen glücklich vermählt sind.» Man erkennt dies an der Art, wie sie all die darin befindlichen Tiere, Pflanzen, Berge, Flüsse gleichsam als Geschwister anerkennen. Sie ehren deren Geheimnisse und sorgen für ihr Wohlbefinden.
Schon die alten Ägypter und die neueren Zigeunerstämme kannten eine beneidenswerte Kunst - sie vermochten aus der ganzen Gestaltung einer Landschaft deren Eigenschaften herauszulesen. Dies ist eine Wissenschaft, nicht viel anders als diejenige, in den Linien des Gesichts oder der Hand den eigentlichen Charakter eines Menschen zu erkennen: Auch dies ist eine der vergessenen Lehren des großen Naturforschers der Alpen, des Arztes Paracelsus (1493-1541).
Die Tiere leben nun nach dem Fahrenden Volk ganz in der Natur. Sie sind vollkommen ihrer Umwelt angeglichen und wandern höchstens weg, wenn sich deren Gegebenheiten, besonders die Wetterverhältnisse, ändern. Will man also die Eigenschaften besser erkennen, die ein Land besonders fördert, dann muß man sich vor allem die Tiere anschauen, die in ihm prächtig gedeihen.
Ein Fahrender, dessen Vorfahren besonders in der Ukraine herumzogen, versicherte mir in Paris: «Wenn ein Tier ausstirbt, dann verschwinden in den Menschen des gleichen Landes genau die Eigenschaften, die man allgemein dem ausgerotteten Tier zuschreibt.» Er erwähnte als Beispiel die wilden Pferde, die es im Osten gab, die man aber nach und nach ausrottete: «Wir sind ja selber stets mit Rossen im Land herumgefahren und waren große Roßhändler. Dadurch, daß die wilden Pferde aus starben und jetzt sogar immer mehr die zahmen, wissen die Menschen immer weniger, was stolze Haltung, schöne Bewegung und die Lust am Abenteuer sind.»
Ich fragte meinen Freund und Lehrer, was denn einigermaßen Gutes die reißenden Wölfe bedeutet hätten? (Ihre fast vollkommene Ausrottung, zumindest in gewissen Ländern, wurde gerade damals in den Zeitungen als «Großtat des menschlichen Fortschritts» gepriesen!) «Völker, die den Wolf zu sehr lieben und ehren, sind selber wie Wölfe», bestätigte er mir. «Aber Völker, die die Wölfe höchstens noch aus den Museen kennen, sind nicht mehr angriffig, unternehmungslustig, kühn und handlungsfreudig. Sogar ob sie ihr Schreibgerät rechts oder links vor sich auf den Arbeitstisch hinlegen, werden die Angehörigen solcher Völker den Vorgesetzten demütig fragen. Ihre Arbeitszeit besteht höchstens noch aus langweiligen Sitzungen, an denen sie endlos herumpalavern, wann und worüber sie in der nächsten Sitzung «entscheiden» wollen. Gerät ein Volk, das die Wölfe ganz vergessen hat, in echte Gefahr, ist es wehrloser als kleine Kinder.»
Ich fragte den erfahrenen Freund, was er von den fleißigen Bibern denke, die in den einst sumpfigen Alpentälern als eins der wichtigsten Tiere galten und heute ganz und gar verschwunden sind. «Der Biber», sagte mein Gewährsmann, «ist ein großer und fleißiger Handwerker, der mit unvergleichlicher Kunst seine Dämme und Bauwerke errichten kann.» Nach einer Tierlegende der Zigeuner ist er darum so tüchtig geworden, weil er dem heiligen Zimmermann und Baumeister Josef, dem Gatten der Gottesmutter Maria, zuschaute: Einige hätten freilich sogar versichert, er habe bereits dem Schöpfer geholfen, als dieser am Erdenmorgen den Flüssen und Seen ihre Gestalt gab... Wenn ein Land seine Biber ausrotte und vertreibe, dann verschwinde aus dessen Leben immer mehr die Begabung zum handwerklichen Geschick!
Diese Lehre der alten Weisheit gehört für mich auf die gleichen Seiten wie die nystische Naturkunde der Heiligen Hildegard oder des Alpenarztes Paracelsus. Vielleicht muß man in ihrem Sinn die Worte der sibirischen Jakuten begreifen, die ich ebenfalls meinem Großvater verdanke: «Den Völkern, die ihre Tiere nie vergessen, gehört immer die Zukunft.»
Auch die bereits christlichen Sibirier hätten fest geglaubt: Die Menschen und die Tierwelt des gleichen Gebiets seien so wie Geschwister. «Man muß nur die Bibel lesen! Alle Geschöpfe des Heiligen Landes scheinen eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden.»
Nymphen der Quellen, Schwanenmädchen, Russalken
Die Nymphen sind für die Griechen schöne Mädchen, die dem Göttergeschlecht entstammen. Sie leben in der unberührten Natur, meistens in der Nähe von reinen Gewässern wie Quellen, Bächen, Teichen und Seen. Sie sind treue und liebevolle Beschützerinnen der Tier- und Pflanzenwelt: Verhältnismäßig leicht scheinen sie sich in diese Geschöpfe verwandeln zu können.
Sie besitzen vollkommene Schönheit und wurden aus diesem Grunde im Altertum besonders gern abgebildet. Dies scheint eine wichtige Grundlage der griechischen Gesundheitsmedizin gewesen zu sein: Betrachtete eine schwangere Frau solche Steinfiguren, so sollte sich dies unmittelbar auf ihre Körperfrucht auswirken, und aus ihrem Leib würden immer schönere Kinder hervorgehen.
Bei Homer und anderen Dichtern ist nicht immer klar, wo genau die Grenze zwischen Götter- und Menschenwelt verläuft.
Das Wort Nymphe wird zum Beispiel für vornehme Frauen verwendet, aber auch für Jungfrauen oder für Geliebte und junge Ehegattinnen. Erst von Fall zu Fall wird daher verständlich, ob es sich um ein menschliches Weib handelt oder um eine echte Fee, ein Wesen aus der Götterwelt. Diese Trennung ist wohl nur für uns Verstandesmenschen wichtig: Viele schöne Frauen, wie sie in den homerischen Dichtungen vorkommen, sind von «olympischer», also göttlicher Herkunft.
Die Nymphen lieben es, nackt zu baden oder durch die Naturlandschaft zu eilen. Sie gelten jedoch als sehr zurückhaltend. Obwohl sie meist nur an sinnliche Dinge denken, halten sie sich dennoch zurück und warten auf die große Liebe. Das Wort Nymphe bedeutet, seiner Wurzel nach, feine Bekleidung, Umhüllung, Nebelschleier. Dies scheint ein Hinweis auf damals übliche Frauenkleider zu sein. Ich verstehe so die Erklärung meiner Großmutter über die Russalken - die modernen Nymphen ukrainischer Flüsse: «Wenn du eine Wasser Jungfrau (wodnuju dewu) im Mondschein schaust, weißt du nicht, ob sie überhaupt bekleidet ist; es ist um sie stets ein starkes Schimmern und Glitzern.»
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