Wir haben freilich genügend Nachrichten, die uns ein Bild dieser Feste vermitteln, weil vor allem durch sie die vielfältigen griechischen Stämme zu einer gewaltigen Einheit verschmolzen wurden. Man versammelte sich an reizvollen, von zahllosen Sagen umgebenen Orten zu bestimmten Jahreszeiten. Fasten, Meditation, Vortrag von Tanz und Musik taten das ihre. Geschickt wurde das Lichtspiel der wirklichen Gestirne durch künstliche Quellen ergänzt: Was die Griechen aus ihren vollkommenen Dichtungen kannten, erlebten sie nun in Wirklichkeit.
Waren sie Zuschauer und sogar Teilnehmer sehr lebendiger Schauspiele? Wurden sie, wie etwa der große Elsäßer Edouard Schure so geschickt schilderte, Zeugen von wahrhaft magischen Erscheinungen? Blickten ihre verzauberten Sinne in andere Welten, auf die Astralebene der uralten griechisch-ägyptischen Geheimlehren? Also in strahlende Reiche hinein, die sonst kein irdisches Auge erforschen kann? Man hat ganze Bibliotheken darüber geschrieben... Doch im Gegensatz zu den Spätgeborenen, die sich darüber die Köpfe zerbrachen, war den Griechen selber dies wohl meistens gleichgültig: Sie sahen im Wachen oder Traum den Reigen all ihrer Bockskobolde und Wassernixen, die vielbesungenen Verwandlungen (Metamorphosen) der Tiere, Menschen und Götter. Sie hielten von nun an durch solche gemeinsamen Erlebnisse ihr eigenes Wesen für unsterblich: Dadurch wurde ihnen auch ihre irdische Umwelt zur spannenden Bühne von endlosen Märchen und Wundern.
Die Sage vom griechischen Weisen, der am hellichten Tage mit einer brennenden Lampe durch die Stadt Athen eilt, überlebte die Jahrtausende. Wir sehen ihn noch heute auf den uralten Karten des Tarot oder Tarock, dessen Sinnbilder vor allem die Zigeuner zum Wahrsagen und Geschichtenerzählen brauchen. Sie kennen noch aus mündlicher Tradition die Antwort, die der Weise all denen gab, die ihn nach der Ursache seines «närrischen» Treibens fragten: «Ich suche in der Menge den Menschen und finde ihn nicht.»
Die Erklärung, die man noch immer hören und nachlesen kann, ist einfach. «Die Tiere sind auch in uns.» Wenn wir sie verleugnen, uns über sie erhaben fühlen, werden wir zu Opfern ihrer Triebe. Sie sind trotz all ihrer Unterdrückung da, so lange wir auch Kinder von Mutter Erde sind. Wie es etwa Friedrich Schiller, der die Weisheit der Griechen so sehr liebte, aus drückte: Wir rühmen uns unserer Vernunft, doch wir brauchen sie allein, um tierischer als jedes Tier zu sein.
Die Liebe zu den Tieren und die zahllosen Märchen um die Tiermenschen dienten den Alten, das Wesen der Schöpfung um sich herum und auch in sich selber besser zu begreifen. Das galt als der dornige und gleichzeitig spannende Weg zum «Erkenne dich selbst». Erst dadurch sollte das wirklich Menschliche, unser Geist, in seiner Gesamtheit voll lebendig werden: Dies äußerte sich im Erwachen der bewußten Bewunderung zum Kunstwerk Welt. Damit auch als Liebe zu den Wesen, die sie mit uns gemeinsam bewohnen.
Die Griechen versuchten unsere Erde bewußt zu erforschen. Gleichzeitig gaben sie sich ihren tiefsten Gefühlen hin. Ihre Kultur mit den wunderbaren Sagen, über die auch ihre größten Philosophen und Naturwissenschaftler großzügige Gedanken entwickelten, bezogen sie aus allen Windrichtungen.
Sie verschmolzen Ägyptisches, Afrikanisches, Skythisches, Etruskisches zu einem Weltbild, das keine Grenzen für den Gedanken kennt. Sie trugen es dann mit ihrer Kunst durch das ganze Mittelmeer und das Schwarze Meer. So wurde aus die sem Großgriechenland unser Europa geboren! Sogar das Wort selber entstammt dem Kreis dieser griechischen Überlieferung: Es ist der Name einer schönen Nymphe, die sich mit dem verliebten Gewittergott Zeus (oder Jupiter) verbindet. Er nimmt die Gestalt eines Stieres an - also eines der wunderbaren «Tiermenschen», von denen die erhaltenen Dichtungen von Homer bis Ovid nur so wimmeln.
Wenn das Abendland im Laufe ganzer Jahrtausende wiederholt das gemeinsame Gefühl empfand, sich in einer peinlichen Sackgasse zu befinden, wandte es sich immer zu diesen Grundlagen. Alle geistigen Richtungen taten dies, auf unzählige, widersprüchliche und wunderbare Arten. Mittelalterliche Liebes-dichter und Alchimisten, der große Naturforscher Paracelsus und die Rosenkreuzer des 17. bis 18. Jahrhunderts, Philosophen und Dichter, Kunstmaler und Bildhauer.
Heinrich Heine hat in seinem Werk «Götter im Exil» (1853) gezeigt, wie von den einstigen Rittern bis zu den romantischen Poeten die Menschen die alten Ruinen südlich der Alpenketten aufsuchten. Sie entdeckten in ihnen, fast völlig überwachsen, die Bilder der Waldgöttinnen und des Pan, des Beschützers der Tiere. Unter den Flügelschlägen der Eulen und Fledermäuse versanken sie in Schlaf: In diesem Zustand erwachte in ihnen die Pracht der Kulturen, die einst ihre Beziehung zur Natur zu bewahren wußten.
Im Traumreich der Jahrmärkte
Ohne den Auftritt der geheimnisvollen Tiermenschen war früher nicht einmal ein ländlicher Jahrmarkt «richtig». Mit den unglaublichen Geschöpfen, die sie vorführten, gaben sich gerade die Schausteller einen geheimnisvollen Adel: Sie deuteten gerne an, daß sie aus Ägypten oder Indien stammten, den Ursprungsländern aller Wunder und Völkerwanderungen. Die neue Forschung hat dies immerhin in dem Sinn bestätigt, daß sie die Fachsprachen solcher von Markt zu Markt ziehenden Familien untersuchte: Wir finden in diesen noch immer eine Unzahl von Roma-Worten, also von Ausdrücken, die die Zigeunerstämme von Indien her mitbrachten. Auch aus dem Hebräisch-Jiddischen, der in Osteuropa früher so verbreiteten Mundart, stammen viele der benutzten Redewendungen. Lovecraft (1890-1937) deutet an, daß die Wachsfiguren und die dazu erzählten Märchen der Schausteller ihn zu seinen Gruselgeschichten anregten. Wir finden etwa in der Erzählung «Grauen im Museum»: «Einige davon (der Darstellungen in der Sammlung eines solchen Mannes, S. G.) waren Gestalten eines bekannten Mythos - Gorgonen, Chimären, Drachen Zyklopen und all ihre schauderhaften Gattungsgenossen.» Wie wir erkennen: Das Volk hat in den letzten Jahrhunderten aus solchen abenteuerlichen Sammlungen noch mehr über die Tiermenschen der Sagen erfahren als etwa aus den Raritäten und Museen der alten Naturwissenschaftler. Die altgriechischen und mittelalterlichen Wundergeschöpfe feierten dank solcher Volksunterhalter eine jährliche Auferstehung.
Viele der ältesten Drucke, die wir aus der Renaissance besitzen, sind Flugblätter. Das Fahrende Volk vertrieb sie unter den Gaffern: Erschreckende Holzschnitte zeigen auf ihnen wunderbare Geschöpfe. Hans Zulliger, der bernische Sagensammler und Psychologe, vermutete in einem Gespräch: «Man muß sich nun vorstellen, daß die Besucher des Jahrmarkts recht berauscht Heim wankten. Sie wanderten durch Nacht und Nebel, und ihr Geist war voll von ungewohnten Bildern. Diese wurden in ihren Wachträumen für sie Wirklichkeit.»
Einige der liebsten Ausstellungswunder der Jahrmärkte waren zweifellos Menschen, die wir in der Regel Mißgeburten nennen. Wir erinnern an die berühmten «Haarmenschen», die man sich etwa als Angehörige einer Löwenrasse, noch lieber als ein Bärenvolk vorstellte: Erstaunlich häufig scheinen sie tatsächlich aus den Gebieten von Polen, Ukraine oder Nordruß land zu stammen.
Man hat diese Schaustellungen später oft aus an sich gut gemeinten Überlegungen verboten. Es sei nicht schön, hat man uns in der Schule gelehrt, durch ihre Anlagen unglückliche Menschen den blöden Gaffern vorzuführen. Doch ein alter Schausteller, den ich darüber befragte, sah das völlig anders: Einen Menschen, der völlig behaart auf die Welt kam, hat man in den Dörfern von Osteuropa häufig als Mißgeburt aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Gelegentlich nannte man ihn geradezu das Kind eines Werwolfs oder Vampirs, der sein geheimer Vater sei! Es war für das Kind ein Glück, daß ein Fahrender daherkam und das arme Wesen den verständnislosen Eltern abnahm.
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