Ein paar Monate später fragte ich Sahi in einem ernsten Gespräch, ob er wirklich mit voller Überzeugung hinter seinem Vorschlag, mich heiraten zu wollen, stand. Zudem wollte ich wissen, ob er mir versprechen könnte, meine Kinder zu achten. Als er beides bejahte, lachte ich ihn an, nahm ihn in den Arm und wir küssten uns. Es war nicht dieses feurige Prickeln, das ich damals bei Samir verspürt hatte, aber doch wunderschön und bewegte mich mehr als erwartet. Ich hatte ihn schon immer sehr lieb gehabt und hoffte, ihn eines Tages richtig tief lieben zu können.
Dann tat ich jedoch etwas, das wieder einmal zeigte, wie wichtig es ist, dass man sich wirklich mit allen Traditionen eines Landes vertraut machen sollte, bevor man handelt. Denn einige Tage später ging ich zu Samirs großem Bruder und sagte ihm, ich würde mich von Samir scheiden lassen, da ich Sahi heiraten wolle.
Als ich Sahi abends freudig darüber berichtete, veränderte sich sein sonst so gelassener Gesichtsausdruck schlagartig. Stammelnd fragte er mich, ob ich von allen guten Geistern verlassen wäre. Ich wäre immer noch Samirs Frau und bevor ich nicht geschieden wäre, hätte niemand von Samirs Familie von unseren Plänen erfahren dürfen. Jetzt würde sein Clan vielleicht denken, wir wären Ehebrecher. Das waren wir streng genommen schon bei diesem einen Kuss. Samirs Familie hatte damit das Recht, Wiedergutmachung zu verlangen.
Das war tatsächlich ein grober Fehler gewesen.
Schon zwei Tage später kam einer von Samirs Brüdern und fragte mich über meine Beziehung zu Sahi sehr detailliert aus. Ich spürte deutlich, sehr unüberlegt und vorschnell gehandelt zu haben.
Sahi sagte mir am nächsten Tag, dass wir uns bis zu meiner Scheidung jetzt nur noch in der Öffentlichkeit treffen könnten und ungemein vorsichtig sein müssten. Nach beduinischem Recht hätte Samirs Familie uns beide bei einem nachgewiesenen Ehebruch sogar töten dürfen. Solche Methoden waren zwar inzwischen nicht mehr üblich, doch nach dem Brauch der Wüstenbewohner völlig legitim und von allen Seiten respektiert. Meist kam es in solchen Fällen aber eher zu einem Abkommen der beiden betroffenen Familien und wurde mit Geld bereinigt. Diese Summen waren zum Teil so hoch, dass den Familien schwere Jahre bevorstanden und sie ihren Stolz im Stamm verminderten.
Was hatte ich bloß getan?
Sahi bekam großen Ärger mit seinen Brüdern. Sie wussten von uns, aber dachten, wir würden unsere Pläne bis zu meiner Scheidung von Samir geheim halten. Alle spotteten über die Dummheit seiner europäischen Auserwählten und fragten ihn mehrmals, ob er sich das mit der Hochzeit auch reiflich überlegt hätte.
Doch Sahi stand zu mir wie ein Fels in der Brandung und half mir, genügend Geld aufzubringen, um mich ein letztes Mal auf den weiten Weg nach Wadi Natrun aufzumachen.
Mir graute davor, meinem Mann, der dort in Haft saß, zusätzlichen Schmerz zu bereiten. Aber es ging nicht anders. Ich wollte wieder leben, wieder lachen, wieder eine Zukunft haben und vor allem endlich wieder glücklich sein.
Nicht zuletzt hoffte ich, vielleicht doch diese heile Familie zu finden, nach der ich immer suchte. Diesen starken Verbund, den ich damals in Sahis Familie bewundert hatte, als ich noch Touristin war.
Ich machte mir auf der zehn Stunden andauernden Fahrt sehr viele Gedanken, wie mein Mann es wohl aufnehmen würde, dass ich mich scheiden lassen wollte. Ich hoffte sehr auf sein Verständnis und seine Zustimmung.
Nach ägyptischem Recht konnte auch ich die Scheidung einreichen, aber einfacher war es, wenn Samir mich verstoßen würde. Ich hoffte, dies könne er schriftlich festlegen.
Die Fahrt zog sich endlos durch die mir heute trostlos erscheinende Wüste. Ihre Schönheit konnte ich durch meine angespannte Gemütsverfassung nicht richtig wahrnehmen. Auch als wir den Suezkanal durchquert hatten und ins Delta fuhren, blieben die grünen Landstriche, die in diesem fruchtbaren Gebiet üppig erblühten, von mir unbeachtet. Ich war in dem mir bevorstehenden Ereignis vollkommen gefangen und konnte an nichts anderes denken.
Als wir im Gefängnis eintrafen und ich mich zusammen mit Mohammed, meinem Fahrer und Vertrauten, erkundigte, verbot man mir, einen Stift mit hineinzunehmen. Ebenso war es nicht erlaubt, dass Samir Schriftstücke, in welcher Form auch immer, unterzeichnete.
Ich beriet mich mit Mohammed und wir kamen auf die Idee, hier jemanden als zweiten Zeugen zu suchen, wenn Samir der Scheidung, wie gehofft, zustimmen sollte.
Wie damals, als ich Samir das erste Mal besucht hatte, mussten wir in einem verdreckten Vorhof des Gefängnisses stundenlang ausharren. Endlich wurde der Name meines Mannes aufgerufen. Wir betraten das trostlose Gebäude. Wenigstens wurde ich diesmal nicht von einer übergriffig
en Ägypterin mehr als unangenehm angefasst. Beim Durchsuchen am Eingang zu den Gefangenen hatte sie mir sehr unsanft und mehrfach über meine Brüste gestrichen. Samir saß mit etwa zwanzig anderen Gefangenen am Boden auf einer Decke und wartete auf seinen Besuch. Er bemerkte bereits bei der Begrüßung, dass etwas anders war und sein Gesichtsausdruck wechselte von freudig auf fragend.
Ich war bis zum Zerreißen angespannt und sehr nervös, dazu emotional so befangen, dass ich kaum ein Wort sprechen konnte. Samir befragte mich nach seinen Söhnen und seiner Familie und ich sagte, dass es allen gut ginge und sie wohlauf wären. Dann hielt ich es nicht mehr aus, denn die Besuchszeit war auf eine halbe Stunde beschränkt und ich hatte viel zu besprechen. Mit großer Trauer im Herzen erzählte ich ihm all das, was mir auf der Seele lag:
»Samir, es tut mir unendlich leid, aber ich kann nicht mehr deine Frau sein. Mousa ist tot und als ich seine Frau, seine Schwester und seine Mutter um ihn weinen sah, wusste ich, ich will und kann das nicht mehr mitansehen. Ich will nicht weiterhin unterstützen, was du getan hast. Ich bin jetzt schon so lange unglücklich, deine Kinder haben so oft mit einer traurigen und verzweifelten Mutter leben müssen. Ich kann das einfach nicht mehr.«
Unerwarteterweise nahm Samir meine Hand und tröstete mich:
»Ich kann dich verstehen, ja Ruhi.«
›Ja Ruhi? Meine Seele? Warum, um alles in der Welt, muss er jetzt dieses Wort wählen?‹, entrüstete sich der Verstand.
›Merkt er denn nicht, wie sehr er ihr Herz schon gebrochen hat? Ist es nötig noch einen obendrauf zu setzen?‹, fragte auch das Mitgefühl.
»Keine Berührungen!«, warf der Polizist, der uns erblickt hatte, kalt und rigoros dazwischen.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich merkte wie sich mehr und mehr Tränen in meinen Augen sammelten. So sehr ich auch versuchte sie zurückzuhalten, es entstand immer mehr Druck, der sie von tief unten nach oben drängte.
Ich sah den Schmerz in Samirs Augen und mein eigener brach letztlich alle Dämme und die angesammelten Tränen stürzten wie ein lautloser Bach meine Wangen hinab.
Samir wischte mir einige aus dem Gesicht und sofort wurden wir wieder von dem Beamten ermahnt. Ich dachte, ich müsste hier und jetzt sterben, aber es war nur der Traum der starb. Der Traum mit Samir eine glückliche, heile Familie zu haben. Ich lebte noch und Samir lebte auch. Unsere Ehe lag jedoch in einem großen Scherbenhaufen vor uns. Samir willigte ein, mich von ihm zu scheiden. Er fragte, während ich zu Mohammed ging und ihn zu uns holte, einen Mithäftling, ob er kurz der unschönen Zeremonie als Zeuge beiwohnen könnte. Als beide neben uns standen, sprach Samir dreimal die nötigen Worte aus: »Inti talak, inti talak, inti talak!« Du bist geschieden!
Die beiden Zeugen zogen sich wieder zurück und ich befand mich wie in einer Art Trancezustand, unfähig, zu denken. Samir bat mich, mich gut um unsere Kinder zu kümmern und ich versprach es ihm. Die halbe Stunde Besuchszeit war viel zu schnell um und noch benommen stieg ich in den Minibus, der uns nach weiteren zehn Stunden Fahrt zurück nach Dahab bringen sollte. Samir hatte mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich seiner Schuld voll bewusst war. Er hatte es mir sehr einfach gemacht und unheimlich viel Verständnis gezeigt. Ich war ihm sehr dankbar dafür, wusste jedoch nicht, wie ich das Gefühlschaos in mir bändigen sollte. Die Fahrt über weinte ich die meiste Zeit und Mohammed, der mich gut kannte, sagte mir immer wieder, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das gab mir zwar etwas Kraft, konnte den Schmerz jedoch nicht lindern. Ich hatte mit der Scheidung meinen Traum endgültig begraben und das war die schlimmste Beerdigung, die ich bis dahin erlebt hatte.
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