Beate Werst
Zwischen Steppenwind und Rotem Asphalt
Die Erinnerungen von Helene Hartmann an die russischen Revolutionen und die beiden Weltkriege
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Beate Werst Zwischen Steppenwind und Rotem Asphalt Die Erinnerungen von Helene Hartmann an die russischen Revolutionen und die beiden Weltkriege Dieses ebook wurde erstellt bei
PROLOG PROLOG 15. Dezember 1947 Und wieder ist ein volles Jahr verflossen, seit ich zuletzt in dieses Tagebuch geschrieben habe. Ich mag kaum glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Sie fliegt förmlich dahin, zerrinnt zwischen meinen Fingern, die mit jedem Tag älter und schwächer werden. Es war ein schwieriges Jahr. Da war dieser unbeschreiblich hungrige und kalte Winter 1946 / 47. Brennmaterial war knapp; die Feuerung reichte nur für den Essenssaal. Unsere Zimmer hingegen blieben eisekalt: Minus 1 – 3 Grad Celsius! Wir Alten haben tüchtig gefroren. Trotzdem habe ich durchgehalten. Und das, obwohl es mir wahrhaft nicht gut ging: Im Oktober 1946 auf der Treppe gestürzt, hatte ich mir die Hüfte verrenkt (eine schmerzhafte langwierige Geschichte). Schließlich bekam ich (der Himmel weiß, woher!) ein Karfunkel auf der Stirn, das ziemlich gefährlich war. Wie gefährlich, zeigte sich kurz vor Weihnachten: Ich bekam ganz plötzlich Wundrose im rechten Auge und derart hohes Fieber, so dass man mich, besinnungslos, wie ich bereits war, ins Krankenhaus bringen musste. Und das zu Weihnachten! Das Fieber wollte nicht weichen, im Gegenteil, hartnäckig krallte es sich an mir fest, gefiel sich offensichtlich darin, mir ohne Unterlass die Phantasie zu bescheren, man habe mich auf dem Kohlenkeller abgestellt. So verbrachte ich die Festtage im Krankenhaus, ohne wirklich etwas davon mit zu bekommen. Niemand glaubte daran, dass ich das überleben würde. Aber ich bin zäher, als manch einer denkt. Und so habe ich auch das überstanden, obgleich mein Auge jetzt, nach einem Jahr, immer noch nicht ganz geheilt ist. Nun habe ich mir aber eine neue ganz dumme Sache zugezogen: Ich habe einen Bluterguss auf der Netzhaut. Meine Schwester hatte dasselbe Leiden, sie wäre fast vollständig erblindet. Auch mein Augenlicht wird schwächer; nicht nur, dass ich Geschriebenes und Gedrucktes nicht mehr zu lesen vermag und ich die Buchstaben nur schwer zu Papier bringe, so kann ich auch keine Handarbeit mehr machen, wozu ich noch so dringend Lust habe. Da auch mein Gehör schlecht geworden ist, ich also Gesprochenes schlecht verstehe, haben auch Theater- oder Kinobesuche ihren Sinn verloren. So ist mein Leben recht einförmig geworden. Aber ich will nicht klagen; habe ich doch weitaus Schlimmeres ertragen müssen als Einförmigkeit. Mein Leben ist durchwirkt von vielen Ereignissen, viel Schönes darunter, doch ebenso viel Leid, Schrecken und Entsetzen, Dinge, die mir weder in die Wiege gelegt wurden noch, dass ich sie hätte steuern können. Ich – und nicht nur ich, sondern meine ganze Generation - war ihnen hilflos ausgeliefert. Für meine Familie will ich sie aufschreiben, meine Geschichte.
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
KURT
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
EPILOG
Impressum neobooks
15. Dezember 1947
Und wieder ist ein volles Jahr verflossen, seit ich zuletzt in dieses Tagebuch geschrieben habe. Ich mag kaum glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Sie fliegt förmlich dahin, zerrinnt zwischen meinen Fingern, die mit jedem Tag älter und schwächer werden.
Es war ein schwieriges Jahr. Da war dieser unbeschreiblich hungrige und kalte Winter 1946 / 47. Brennmaterial war knapp; die Feuerung reichte nur für den Essenssaal. Unsere Zimmer hingegen blieben eisekalt: Minus 1 – 3 Grad Celsius! Wir Alten haben tüchtig gefroren.
Trotzdem habe ich durchgehalten. Und das, obwohl es mir wahrhaft nicht gut ging: Im Oktober 1946 auf der Treppe gestürzt, hatte ich mir die Hüfte verrenkt (eine schmerzhafte langwierige Geschichte). Schließlich bekam ich (der Himmel weiß, woher!) ein Karfunkel auf der Stirn, das ziemlich gefährlich war. Wie gefährlich, zeigte sich kurz vor Weihnachten: Ich bekam ganz plötzlich Wundrose im rechten Auge und derart hohes Fieber, so dass man mich, besinnungslos, wie ich bereits war, ins Krankenhaus bringen musste. Und das zu Weihnachten!
Das Fieber wollte nicht weichen, im Gegenteil, hartnäckig krallte es sich an mir fest, gefiel sich offensichtlich darin, mir ohne Unterlass die Phantasie zu bescheren, man habe mich auf dem Kohlenkeller abgestellt.
So verbrachte ich die Festtage im Krankenhaus, ohne wirklich etwas davon mit zu bekommen.
Niemand glaubte daran, dass ich das überleben würde. Aber ich bin zäher, als manch einer denkt. Und so habe ich auch das überstanden, obgleich mein Auge jetzt, nach einem Jahr, immer noch nicht ganz geheilt ist.
Nun habe ich mir aber eine neue ganz dumme Sache zugezogen: Ich habe einen Bluterguss auf der Netzhaut. Meine Schwester hatte dasselbe Leiden, sie wäre fast vollständig erblindet. Auch mein Augenlicht wird schwächer; nicht nur, dass ich Geschriebenes und Gedrucktes nicht mehr zu lesen vermag und ich die Buchstaben nur schwer zu Papier bringe, so kann ich auch keine Handarbeit mehr machen, wozu ich noch so dringend Lust habe. Da auch mein Gehör schlecht geworden ist, ich also Gesprochenes schlecht verstehe, haben auch Theater- oder Kinobesuche ihren Sinn verloren. So ist mein Leben recht einförmig geworden.
Aber ich will nicht klagen; habe ich doch weitaus Schlimmeres ertragen müssen als Einförmigkeit. Mein Leben ist durchwirkt von vielen Ereignissen, viel Schönes darunter, doch ebenso viel Leid, Schrecken und Entsetzen, Dinge, die mir weder in die Wiege gelegt wurden noch, dass ich sie hätte steuern können. Ich – und nicht nur ich, sondern meine ganze Generation - war ihnen hilflos ausgeliefert.
Für meine Familie will ich sie aufschreiben, meine Geschichte.
Dass ich mit meinem Vater beginne und ihm beinahe ein ganzes Kapitel widme, während ich meine Mutter quasi „nebenbei“ erwähne, mag auf den ersten Blick nicht recht erscheinen, denn sie war eine warmherzige, lebenskluge Frau, die sicherlich ein gutes Stück dazu beigetragen hat, dass mein Vater seine beruflichen Ziele erreichen konnte; hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, so sagt man doch, nicht wahr? Ebenso wenig richtig – und angesichts der Fülle seines Tuns und Wirkens nicht wirklich möglich - schien es mir, das Lebenswerk meines Vaters mit ein oder zwei Sätzen abzuhandeln.
Theodor Niebour, 1825er Jahrgang, war jemand, der schon sehr früh sehr genau wusste, was er wollte, jemand, der ein klares Ziel vor Augen hatte und alles daran setzte, es zu erreichen. Die Seefahrt faszinierte ihn, der Moment, wenn ein Segelschiff in See stach, der Bug des Schiffes sich stolz aus dem Wasser hob, während es sich zielstrebig seinen Weg aus dem sicheren Hafen hinaus aufs offene Meer bahnte. Und fragte sich, als das kindliche Staunen längst ehrlichem Respekt gewichen war, ein ums andere Mal, wie es gelingen konnte, ein solches Schiff auf Kurs zu halten und an sein Ziel zu bringen.
Inwieweit meine Großeltern die Begeisterung ihres Sohnes teilten, vermag ich nicht zu beurteilen; zumindest ließen sie ihn ziehen, als er, gerade mal 14-jährig, auf einem Segelschiff als Schiffsjunge anheuerte. Vermutlich spielte auch der Umstand eine Rolle, dass er sein eigenes Geld verdienen und ihnen nicht auf der Tasche liegen würde; gab es doch genügend hungrige Mäuler, die es zu stopfen galt.
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