Ebenso liebten wir die Geschwister unserer Mutter, sofern wir Kontakt mit ihnen unterhielten. Nicht allen war ein glückliches Leben beschieden. Wie Tante Annette zum Beispiel, die ich bereits erwähnte; sie war die leibliche Mutter meiner Pflegeschwester Anna. Eine andere hingegen hatte drei Kinder, von denen eines krank war. Innerhalb eines Jahres verlor sie ihren Mann und zwei ihrer Kinder. Woran sie starben, vermag ich nicht mehr zu erinnern; aber ich weiß noch, wie meine Mutter ihre Schwester oft bedauerte; es war sicherlich nicht einfach, die Verantwortung allein tragen zu müssen, die das Leben ihren Schultern in Gestalt der kranken Tochter aufgebürdet hatte.
So wenig ich mich an Großvater Marr erinnere, umso deutlicher sehe ich Großvater Niebour vor mir. Obschon nur ein kleiner Beamter, war Ludolf Niebour eine vornehme Erscheinung, ja, man könnte sagen, er sah aus wie ein englischer Lord. Allerdings besaß er einen altmodischen grauen Zylinderhut, den er mit Vorliebe anlässlich seiner täglichen Spaziergänge durch den französischen Garten Celles trug. (Meine Großeltern waren nach Großvaters Pensionierung von Hannover nach Celle übergesiedelt). Wir Enkelkinder fanden diesen Hut ganz schrecklich und beschlossen, diesem Übel ein für alle Mal ein Ende zu bereiten: Als wir einmal alle zu Besuch in Celle waren, holten meine Vettern, beide Studenten, den Hut am Abend ins Zimmer, legten ihn feierlich auf den Stuhl und mit Hallo nahmen wir alle Platz darauf!
Großvater ließ sich nicht beirren: Lächelnd sah er unserem Treiben zu, dann ging er hinaus, und – erschien mit einem noch viel schrecklicheren, niedrigen, breitrandigen schwarzen Zylinder. Da half nun nichts – wir mussten uns geschlagen geben.
So sehr mein Großvater auf sein elegantes Erscheinungsbild achtete, so wenig legte meine Großmutter Wert darauf: Julie Niebour war eine kleine, einfache Frau und eigentlich passte sie gar nicht zu unserem Großvater. Aber sie war herzensgut! Ich glaube, die beiden waren ganz glücklich miteinander.
Papa hatte sechs Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern. Zwei der Brüder waren Kaufleute, wobei der eine, Onkel Wilhelm, nach Australien übersiedelte, der andere, Onkel Adolf, als Offizier in österreichischen Diensten stand. Zwei seiner Schwestern waren bildschön: Tante Mathilde hatte lange, bis zur Erde reichende schwarze Zöpfe und blaue Augen in einem edlen, fein geschnittenen Gesicht. Die andere, Tante Ida, war eine üppige Schönheit mit roten Haaren. Mit 18 Jahren wurde sie irrsinnig und lebte dann noch 50 Jahre im Irrenhaus. Papas dritte Schwester, Tante Alwine, war zwar nicht schön und sie war auch kein bisschen verrückt. Aber sie war sehr witzig und lustig und wir liebten sie daher sehr.
Das also waren meine nächsten Verwandten.
***
Olga war 19, als sie den Sohn des Professors Jessen in Dorpat heiratete. Er war Landwirt in Russland; dass er sich seine Frau aus Deutschland holte, war natürlich ein Ereignis, das Anlass zu allerlei Gerede gab: Wie konnte man seine Tochter nur einem „Russen“ geben…!
Die Hochzeit verlief, nun, ich würde mal sagen, etwas „speziell“: Auf Wunsch meines Schwagers, der nur schwer von seinem Gut abkömmlich war, hatte man die Trauung in die Zeit seines Aufenthaltes in Hamburg gelegt.
Also wurde der Pastor gebeten, die Gäste geladen. Zum Polterabend, der am Abend vor der Hochzeit stattfinden sollte, sei, so hieß es zu den Bekannten, jedermann willkommen, der kommen wolle.
Der Polterabend kam. Bis dato hatten wir von meinem Schwager nichts gehört; weder, dass er sein Kommen brieflich noch telegraphisch angekündigt hätte. Die Gäste erschienen, die Familien waren versammelt… Nur der Bräutigam glänzte durch Abwesenheit!
Entsetztes Gemurmel machte sich unter den Gästen breit: „Der Russe lässt sie sitzen!“
Wie Olga sich gefühlt haben muss, wage ich mir nicht vorzustellen. Auf jeden Fall bewahrte sie Haltung: Als der Abend vorangeschritten und ihr Bräutigam immer noch nicht gekommen war, bat sie Papa, den Platz ihres Verlobten einzunehmen. Die Aufführungen begannen, und alles amüsierte sich prächtig.
Erst am Tage darauf kam das Telegramm, das für Aufklärung sorgte: „Komme 8 Tage später, Papiere nicht erhalten.“
Später erzählte mein Schwager oft: “Ich bin beinahe nicht auf meiner eigenen Hochzeit gewesen.“
***
Obwohl Olga nach ihrer Hochzeit zu ihrem Mann nach Russland zog, blieben wir über die Jahre hinweg verbunden.
Eines Tages – ich war mittlerweile 21 Jahre alt - lud sie mich zu sich ein. Baron Waldow, ein Bekannter von ihr, sei gerade in Deutschland und würde mich mitnehmen.
Nur zu gern nahm ich Olgas Einladung an. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen und freute mich darauf, die neue Heimat meiner Schwester kennenzulernen. Dass ich dort dem Menschen begegnen würde, der später mein Ehemann werden sollte, ahnte ich nicht.
Olga hatte in der Zwischenzeit drei Söhne zur Welt gebracht. Der älteste von ihnen, Max, war neun Jahre alt und sollte eine Schule in Dorpat besuchen, denn im Inneren Russlands, noch dazu auf dem Lande, war eine schulische Erziehung unmöglich. Nun hatte mein Schwager einen Neffen: Nicolai, genannt Colli. Er war der Sohn des Dr. Hartmann in Dorpat und hatte sich bereit erklärt, Max auf die Schule vorzubereiten. Colli selbst war Primaner, 17 Jahre alt, ein bildschöner Jüngling – und unglaublich schüchtern!
Doch bei aller Schüchternheit konnte er nicht verbergen, dass er in mich, die vier Jahre älter war als er, verliebt war. Ich fand das ausgesprochen schmeichelhaft und mochte ihn – mehr aber auch nicht.
Ich hatte fast ein Jahr bei meiner Schwester gewohnt, als mein Schwager seine Stellung verlor. Mit Sack und Pack zogen wir daraufhin nach Livland auf das Gut des Pastors Masing unweit Dorpat in Neuhausen. Wir wurden mit echt baltischer Gastfreundschaft aufgenommen. Und nicht nur das: Colli wohnte ja ganz in der Nähe von Neuhausen und kam oft vorbei, so dass wir uns häufig sahen. Aber auch jetzt vermochte er nicht mehr als freundschaftliche Gefühle in mir zu wecken: Der Altersunterschied war mir denn doch zu groß!
So fiel mir der Abschied von Colli auch nicht wirklich schwer, als ich irgendwann wieder nach Hause musste. Im Gegenteil, ich freute mich nach der langen Zeit auf die Eltern und die Heimat. So war mein Herz leicht, als ich die Heimreise antrat. Darüber, ob ich seines vielleicht gebrochen haben könnte, dachte ich nicht nach – die Frage stellte sich mir schlichtweg nicht.
Die nächsten Jahre verbrachte ich im Hause meiner Eltern. Noch immer war ich das „Fräulein Niebour“; es war mir bis dato niemand begegnet, dem ich mein Herz hätte schenken wollen. Musste ich mir Sorgen machen? Würde ich eines Tages diese Welt als sauertöpfische, alte Jungfer verlassen? Schaute ich in den Spiegel, sah ich das Gesicht einer deutlich jüngeren Frau vor mir, als sie es eigentlich war; dass ich 28 Jahre alt war, sah man mir nicht an. Wobei ich dazu sagen muss, dass mein Leben bislang ohne irgendwelche nennenswerte Ereignisse verlaufen war. Ich war gesund, lebte in einem gesicherten Umfeld und hatte keine persönlichen Schicksalsschläge von der Art einstecken müssen, die ein Gesicht mit Linien der Bitterkeit oder Trauer durchziehen. Woran also mochte es wohl liegen, dass ich immer noch allein war, während meine Freundinnen schon lange verheiratet und einen eigenen Hausstand zu versorgen hatten? Lag es an mir, war ich zu anspruchsvoll? Was wollte, was erwartete ich eigentlich??
Eines Tages erhielt ich einen Brief von Nicolai Hartmann aus Russland. Freudig öffnete ich den Umschlag und begann zu lesen.
Ganz offensichtlich hatte sich seit unserer letzten Begegnung so einiges in seinem Leben getan. Er habe, so schrieb er, in Dorpat studiert und als Volontär auf einem Gut gearbeitet. Abschließend wolle er nun noch in Leipzig ein Jahr Landwirtschaft studieren. Gern würde er die Gelegenheit nutzen wollen, mich auf der Hinreise zu besuchen.
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