Fliegende Teppiche
Simone Wiechern
Für meine Söhne
Ghanem, Salama und Soliman
»Wer nicht in die Welt passt,
der ist immer nahe daran, sich selber zu finden.«
- Hermann Hesse -
Der graue Himmel über Friedrichshain beschwerte mein Gemüt. Die leuchtende, wärmende Sonne brachte hingegen neue Ideen, neue Hoffnungen.
Oft, wenn der Himmel wieder klarer wurde, wurden es meine Gedanken auch. Dann sprossen Geistesblitze wie frische Keimlinge im Zeitraffer in den Himmel. Aber diese dann umzusetzen, war ein anderer Schuh. Einmal stand mir die Angst im Weg, dann wieder das Misstrauen und oft siegte diese unüberwindliche Bequemlichkeit, die einem einflüstert, alles besser so zu lassen, wie es ist.
Wenn einem jedoch der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, besteht Handlungsbedarf, und dann können solch verrückt erscheinende Einfälle die einzig gute Alternative sein.
Dann ist der Moment gekommen, in dem man die Chance hat, mutig auf den Teppich aufzuspringen, der freudig mit den Fransen winkt, anstatt sich betrübt geschlagen zu geben, schnell eine magische Zauberformel zu sprechen und dem wackeligen Untergrund vertrauen, dass er sich erhebt und aus dem Desaster in eine neue Welt entflieht …
Nassibuk, Schicksal, sagen die Beduinen und meinen damit: Alles wird kommen, wie es kommen muss. Das gesamte Leben ist in einem großen Buch verzeichnet und man kann seiner Bestimmung nicht entkommen. Stimmt das?
Wenn ich heute daran zurückdenke, war es eine knappe Stunde, in der ich entschied, mein gesamtes bisheriges Leben vollkommen über den Haufen zu werfen.
Voller Sehnsucht in Berlin
»Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst,
sondern darin, dass du immer willst, was du tust.«
- Leo N. Tolstoi -
Ich lag auf dem einsturzgefährdeten Balkon meiner Wohnung in Berlin Friedrichshain und suchte die Sterne am Firmament. Doch nur ein rabenschwarzer Baldachin war dies im Vergleich zu dem unbeschreiblichen Himmelszelt des Sinai, das ich so sehr vermisste. Das Wetter war jedoch angenehm und ich konnte der Enge der vier Wände entfliehen, meine Isomatte und Bettzeug auf den Balkon verfrachten und meine Augen schließen. Jetzt war es ein Leichtes, mir vorzustellen, ich wäre noch dort; im Land meiner Sehnsucht, wo der Himmel zum Greifen nah war und die Sterne, üppig hingeworfener Diamanten gleich, glitzerten und funkelten. In den Nächten dort hatte mich diese Aussicht bedingungslos glücklich gemacht. Die unzähligen Sternschnuppen konnten einfach mit ihrer Schönheit prahlen, ohne ihrer Aufgabe als Wunscherfüller nachkommen zu müssen. Noch einmal nahm ich den kleinen Sack mit Bergkräutern, den mir eine alte Beduinin geschenkt hatte, unter meinem Kissen hervor und inhalierte den Duft von Weite und Ferne. Kurz vor dem Einschlafen hoffte ich, dies würde mich wenigstens in meinen Träumen wieder an den Ort bringen, der eine ungeahnte Sehnsucht in mir auslöste und vor allem nachts in meinen Gedanken war.
Salim holte uns zwei Taschenlampen und Neoprenschuhe, die schon recht mitgenommen aussahen. Wir wanderten zu einem nahe gelegenen Riff. Er bat mich, dicht hinter ihm in dem knöcheltiefen Wasser zu laufen und mich so langsam und lautlos wie möglich zu bewegen. Wir hatten Neumond und es herrschte absolute Windstille; perfekte Voraussetzungen für unser Vorhaben, wie mich Salim aufklärte. Einzig der Schein unserer Taschenlampen war zu sehen und ich wunderte mich, wie viele Meerestiere wir beobachten konnten. Fische, Schnecken und Seesterne in allen Größen und Farben krochen hier des Nachts über die Riffplatte. Doch erst mal kein Zeichen der Kreatur, die wir suchten. Es war gar nicht so einfach, in dieser stockfinsteren Nacht über die Korallen zu steigen, und ich versuchte meine Füße so vorsichtig wie möglich zu platzieren, um das Riff nicht zu beschädigen. Einige Male rutschte ich aber doch auf dem glibberigen Untergrund aus und ratschte mir die Knöchel an den scharfen Kanten des Untergrunds blutig. Doch Abenteuerlust und Jagdfieber waren geweckt und da hielten mich keine kleinen blutenden Wunden auf. Für Haie war es hier zu meiner Beruhigung nicht tief genug.
Plötzlich blieb der Beduine stehen, hielt mich am Arm und deutete auf etwas in einem kleinen Loch vor uns. Ich zuckte mit den Schultern und sah - nichts. Er leuchtete direkt in den Spalt, und jetzt konnte auch ich etwas erkennen: zwei kleine orange leuchtende Punkte, die das Licht seiner Taschenlampen reflektierten.
Das sind die Augen, gab mir Salim per Zeichensprache zu verstehen und bückte sich ganz langsam. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, griff er zu und zog einen kleinen Hummer daraus hervor. Sein strahlendes Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen und entblößte eine Reihe schwarz verfärbter Zähne, die dem Riff gefährlich ähnelten. Er bugsierte ihn in den dafür mitgebrachten Stoffbeutel und bat mich, da er scheinbar davon ausging, ich wüsste nun, wie ein Hummer aussah, etwas entfernt neben ihm zu gehen. Ich hatte das sprichwörtliche Anfängerglück. Schon nach einigen Minuten sah ich wieder zwei Leuchtperlen im matten Schein meiner Lampe blinken und winkte Salim zu mir. Als er sah, was ich gefunden hatte, rieb er sich die Hände und forderte mich auf, zuzugreifen. Doch gern überließ ich ihm diese Aufgabe und diesmal lohnte sich der Fang wirklich. Ein wunderschönes Tier hatte er da in der Hand; eigentlich viel zu schade es mitzunehmen, aber mir war klar, dass Salim diesen Fang nie und nimmer wieder hergeben würde. Er sagte mir, es wäre nun genug für unser Frühstück und wir gingen zurück ans Ufer.
Wieder im Camp, entzündeten wir ein Feuer direkt vor seiner Hütte aus den unterwegs mitgebrachten Palmwedeln und ein wenig Holzkohle, die noch in der alten Feuerstelle lag. Noch bevor die Kohle richtig durchgeglüht war, hatte ich schon Tee bereitet und wir erwarteten den Sonnenaufgang. Salim hatte den Hummer in der Zwischenzeit in der Campküche vorgekocht und legte ihn nun für eine Weile auf die glühenden Kohlen. Er bot mir meinen Fang an, aber ich entschied mich für den kleineren. Eine hitzige Diskussion entbrannte, in der mir schnell klar wurde, dass es nur einen Verlierer geben konnte. Ich nahm also doch den größeren. Gerade als die Sonne hinter den Bergen Saudi Arabiens aufging, hatten wir einen dekadenten Gaumenschmaus, wie ich ihn selten zuvor erlebt hatte.
Das unbarmherzige Klingeln des Weckers holte mich zurück in den Berliner Morgen, der mal wieder grau und trist war. Noch verschlafen schleppte ich mich ins Zimmer. Beton ist härter als Wüstensand. Alle Glieder reckend und steckend ließ ich mich am Frühstückstisch nieder.
»Wie lange willst du eigentlich noch auf dem Balkon nächtigen?«, fragte mich mein Freund mit einem verständnislosen Grinsen auf seinem Gesicht und schob mir die Kaffeekanne herüber.
Ich goss mir die schwarze, wie immer viel zu starke Brühe in meinen Becher und zuckte nur mit den Schultern. Ich war noch ganz gefangen in den schönen Traumbildern, die genau so noch vor einigen Wochen real geschehen waren und von denen ich mich nicht trennen wollte. Dort würde ich jetzt auf das offene Meer blicken, der strahlende Glanz der Sonne würde den Tag zum Leuchten bringen, ich hätte ein Glas Tee in der Hand und Hummer zum Frühstück!
»Gehst du gleich erst in die Uni oder arbeiten?«, brachte mich Klaus wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Zur Uni, warum fragst du?«, antwortete ich verträumt.
»Dann können wir zusammen los, ich habe gleich eine Vorlesung.«
»Ich habe ein freiwilliges Tutorium in arabischer Grammatik. Diese ist so umfangreich, da kann ich gar nicht genug lernen, um das jemals zu verstehen. Es gibt Unmengen von Regeln und noch zahlreicher sind die Ausnahmen dazu.«
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