Martin Jaeger
ist der Autorenname von Udo Schneider;
Schneider wirkte 20 Jahre lang mit Stift, Mikrophon und Kamera als Zeitgeist-Chronist für deutsche Medien.
Er lebt in Berlin und arbeitet an biografischen Multimedia-Produktionen.
Der vorliegende Roman ist seine erste Prosaarbeit aus dem Bereich okkult-grotesker Mystik.
Für Achmed, Elisa
und die Erfinder
Die nachfolgende Erzählung ist frei erfunden, auch dort, wo erkennbare Parallelen zu realen Vorkommnissen sichtbar werden. Dahinter liegende Fakten authentischer Begebenheiten in Wissenschaft, Energiewirtschaft und Geschichte, wird ein wissbegieriger Leser bei Bedarf leicht ermitteln können. Ähnlichkeiten mit auftauchenden Persönlichkeiten des Gesellschaftslebens und wahren Ereignissen sind sowohl zufällig als auch erwünscht.
Dessen ungeachtet lag es in der Absicht des Autors, die Integrität aller beteiligten Figuren so weit als möglich zu bewahren.
Bei aller Tragik der Ereignisse muss der Autor von den Ergebnissen seiner Recherchen und Imaginationen unberührt bleiben.
Er ist nur der Bote.
Der Mann mit dem blassen Gesicht parkt die dunkle Limousine in einer Nebenstraße. Schwarzer Hut, Sonnenbrille, zwei Blöcke wird er zu Fuß gehen. Er mag das leichte Kribbeln in der Wirbelsäule, jedes Mal vor der Erledigung eines Auftrags überfällt es ihn. In der letzten Zeit rätselt er, woran das liegen könnte.
Ein letztes Mal überprüft er den Sitz des Gummigurts unter seinem Hemd. In Herzhöhe brummt der Taser. Seine geübte Hand berührt die schwarze Anzughose an der Seitennaht, nickt beruhigt, als nach dem Ertasten des Schiebereglers das Lämpchen hinter dem Satin des Oberhemds hellgrün Bereitschaft signalisiert. Gefüllte Akkus, gut. Noch nie haben ihn seine Thorium-Batterien im Stich gelassen. Sie werden auch dann noch funktionieren, wenn er einmal nicht mehr ist.
Die Waffe hat er mit Hingabe entwickelt. Schließlich spielt es keine Rolle, ob das erhebende Gefühl den Kriechströmen der Elektronik geschuldet ist, einer bewusst zarten Isolierung des Gehäuses, oder dem natürlichen Lampenfieber, kurz bevor er den Puls-Schocker benutzen wird. Gelegenheiten, eine Situation zu dominieren, mithilfe des elektronischen Begleiters eine eindringliche Atmosphäre zu verbreiten, hat der Texaner mit dem fahlen Teint nur selten ausgelassen.
Er hält inne, bleibt stehen und dreht sich um. Niemand folgt ihm, außer zwei Passanten, die eilig an ihm vorbeiziehen, eindrucksvoll zur Seite blicken, ihn auf keinen Fall wahrnehmen wollen. Gut so.
Dass er sich auf der Arbeit meistens in einer elektrischen Aura aufhält, erschwert es normalen Menschen, ihn als vollkommenes biologisches Wesen zu identifizieren. Dass er auf Zeitgenossen wirkt wie ein Bestatter – schwarzer Anzug, was sonst? – flößt der Umwelt automatisch Respekt ein, immer noch. Jeder, der seiner auch nur für einen Moment ansichtig wird, zieht es vor, ihn umgehend wieder aus den Erinnerungen zu streichen. Das lief bereits drüben in der Heimat so. Die Antwort auf dieses Kontaktproblem ist ganz einfach und eine Frage:
Wer schaut schon gern dem Tod in die Augen?
Noch ist es still an diesem strahlenden Grazer Montagmorgen. Ein dünnes Lächeln umspielt sein Gesicht beim Anblick der Technischen Universität. Einen Moment lang scannt er das dreistöckige Gebäude mit offenem Mund. Scharf streift die Morgensonne den Sandstein, verleiht der Anlage ein respektables Aussehen.
Der neue Mitarbeiter aus Berlin hatte ein passables Dossier über die TU und den Leiter des physikalischen Instituts vorgelegt. Der Bericht, eine Mischung aus Expertise und anekdotischen Details, hat ihn ausreichend vorbereitet. Es geht einfach nichts über intelligente Fährtensucher. Möglicherweise ist der Deutsche längerfristig von Nutzen. Verlässliche Zuarbeiter erleichtern das stetig anwachsende Arbeitsvolumen.
Die TU hat es in sich. Viele Talente und Genies brachte die Institution in den letzten vier Jahrhunderten hervor, inklusive Nobelpreisträgern. Immer wieder bringt sich das Land in eine Position, die es ermöglicht, den Fluss der Geschichte in eine andere als die vorgesehene Bahn zu lenken. Es gilt nun, dem einen Riegel vorzuschieben. Nach den statistischen Erhebungen der Corporation quillt der kreative Geist hier etwa alle 70 Jahre über, zeugt und gebiert - eventuell unabsichtlich, dafür um so zweckvoller – Wunderknaben.
Man kann sich hier bei Bedarf sehr klein machen, dabei gleichzeitig Erstaunliches zutage fördern, so geduldig wie akribisch Talente und unberechenbare Erfindungen hervorbringen.
Deswegen ist er hier.
Oberhalb des dritten Stockwerks, unmittelbar unter der Balustrade, die auf die Kuppel zuläuft, entdeckt er das erwartete offene Fenster neben der Feuerleiter, die Bibliothek.
Eine Straßenbahn nähert sich quietschend, lenkt seine Schritte in Richtung Eingangsportal. Direkt vor der Tür steht das Fahrrad des Professors. Zielobjekt erfasst.
Er berührt den Ledersattel, erfühlt Restwärme, schließt daraus, dass der Auftrag sich seit maximal zehn Minuten im Haus aufhält. Der Physiker gilt als Frühaufsteher, ist in der Regel zeitig auf den Beinen. Insbesondere, wenn eine Demonstration neuer physikalischer Errungenschaften ansteht, wie in der kommenden Woche, schläft er kaum, wie dem Dossier des Berliners zu entnehmen war.
Zu der nächsten Präsentation wird es aber leider nicht mehr kommen, sinniert der Mann mit der unsichtbaren Strahlenwaffe, lächelt melancholisch. Einen Moment verharrt er unschlüssig an der Pforte des Instituts, horcht noch einmal in sich hinein, vergewissert sich seiner moralischen Integrität und der Notwendigkeit dieses Auftrags. Dann klingelt er.
Durch die Glastür sieht er, wie sich schlurfend eine unscheinbare männliche Person in grauem Kittel nähert. Merkwürdiges Volk in diesem Land. Misstrauisch nimmt ihn einer jener österreichischen Individualisten fortgeschrittenen Alters ins Auge, ein Kauz, ein in die Jahre gekommener Greis mit rotem Vollbart, in Wollsocken und Holzschuhen. Einer für das Altenteil.
«Freundlichkeitsmodus», assoziiert Scheck, berührt den Schieberegler dort, wo die Texaner früher ihren Colt trugen. Während er mit dem linken Arm eine leicht ausholende Bewegung ausführt, um auf seine Armbanduhr zu schauen, zieht die rechte Hand den Regler. Ein wenig mütterliche Atmosphäre wird das Unikum ruhig- sowie kooperativ einstellen.
«Sagen Sie bitte, wo finde ich den Institutsleiter, Professor Bulgakov, ich habe einen Termin.»
Der untersetzte Hausmeister lugt flüchtig zu ihm auf, blickt weg, zupft an seinem feuerroten Bart, mustert ihn nochmals, späht über die Schulter zu dem Fahrrad, tritt einen Schritt beiseite, öffnet die Tür, lässt ihn schließlich ein. Brabbelt Unverständliches. In derben Holzpantinen stapft der bärtige Rentner voraus. Klok, klok, klok, hallen die holländischen Clogs durch das Foyer. Indiskret, viel zu laut. Stumm läuft der Mann in Schwarz hinter dem Faktotum her, bewegt sich zielstrebig auf den Lift zu, beobachtet aufmerksam die Wirkung seines liebenswürdigsten Energiefeldes. Na, nun sag schon.
«Um diese Uhrzeit ist der Professor normalerweise in der Bibliothek, der Herr», nuschelt der Alte mit einem eigenwilligen Akzent.
«Drittes Obergeschoss, bitte sehr. Die Bücherei befindet sich grad‘ am Ausgang des Fahrstuhls, gegenüber.»
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