Cord fummelt an seinen roten Bartflusen.
Mit der Tochter hat er es verrissen. Immer wieder packt ihn die Melancholie, wenn er in seinem Hausmeisterverschlag hockt und an den Streit mit dem Hannerl denkt. Dem eigen Fleisch und Blut. Seit vier Wochen zählt er die Tage. Dergleichen hat schon härtere Kaliber als ihn in die Depression gestürzt. Genau hierin offenbart sich die melancholische Mentalität seiner Heimat? Und er dachte noch, er käme drum herum.
Irgendetwas wird geschehen. Er fühlt es im Bauch, er hört es im Kopf. Was könnte es dieses Mal sein? Kann doch nicht schon wieder ein Krieg ausbrechen, wie 1939, als der Forstrat kurz vor der technischen Revolution mit natürlichen Mitteln stand.
In zwei Wochen wird Bulgakov einen Antigravitations-Generator präsentieren – und dann soll es gut gewesen sein. Toi, toi, toi. Die Sehnsucht nach Beschaulichkeit wird jeden Tag größer. Soll ja wohl in Ordnung gehen, mit 73 Lenzen auf dem Rücken.
Über den Sonnenstrahlen, die durch das sommerliche Blattwerk fallen, bilden sich regenbogenfarbene Prismen im Morgentau auf dem Blattwerk der Bäume. In ihnen lässt er schwungvoll Johanna tanzen. Immer häufiger tanzt er mit ihr, denn nichts ist so groß wie der Wunsch, sie endlich wieder in seine Arme zu schließen. Weil er sie verloren hat, sie gehen ließ, er sein dummes Schandmaul nicht halten konnte.
Wie in Stein gemeißelt kauert die ungeklärte Situation in einer Ecke seiner Brust und er möchte, dass die morgendliche Wärme sie auflöst, geradewegs ungeschehen macht.
«Ich hab sie getragen sieben Jahr», murmelt er niedergedrückt in die Birke des Lichthofs hinein, blinzelt dabei mit halb geschlossenen Augen durch das Astwerk.
Sie verließ ihn, gleich nach der Maturafeier, am letzten Schultag, nachdem sie ihm mit einem triumphierenden Blick ihr brillantes Zeugnis überreicht hatte.
Gerade kam sie vom Laufen, zwei Stunden nach der Abschlussfeier in der Schule. Wie sie halt ist, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, auch nach einem solch einmaligen Ereignis mit dem Rad in den Wald zu fahren, um sich 25 Kilometer lang laufend auszutoben. Soeben ein Ziel erreicht und schon das neue im Visier. Ein Marathonlauf sollte es werden, sagte sie und trainierte, wann immer sie Zeit dafür aufbringen konnte.
Zur Feier des Tages hatte er einen Obstsalat gemacht. Mit noch nassem Kopf vom Duschen setzte sie sich zu ihm an den Mittagstisch. Die roten Haare streng nach hinten gekämmt, traten ihre Sommersprossen heftig hervor, Pigmente wie bei ihm früher und der Mutter. Ihre Augenfarbe changierte immer, wenn sie sich aufregte, von Blau nach Grün. Vererbt von der Großmutter. Sie wirkte aufgeregt – grün, das hieß: voller Tatkraft, Unternehmungslust und Selbstbewusstsein. Schön eigentlich.
Nur ein wenig hatte er sie hochgenommen, gesagt, dass sie ein Typ sei, der die empfindliche Haut auch im Winter behielte. Wie meistens in Momenten der Betroffenheit zog sie die hohe Stirn in Falten, tat gereizt, schien aber ihr Schicksal zu akzeptieren. Eine Ermutigung würde ihr guttun, hatte er noch gedacht, sie gelobt für ihren Fleiß und die Ausdauer. Dann sprach sie davon, dass sie Umwelttechnik in Wien studieren wollte.
«In dem polytechnischen Kurs ging es zuletzt um die optimale Verbindung von Physik und Umweltwissenschaften. Unter anderem haben wir über die Reinigung von Trinkwasser gesprochen, wenn man keine technischen Möglichkeiten besitzt, wie zum Beispiel in Afrika. Wir sprachen darüber, wie man Wasser reinigen kann, wenn es keine finanziellen Mittel gibt. Wir haben Brackwasser aus der Pfütze in eine Plastikflasche gefüllt und in die Sonne gelegt. Der Dreck hat sich abgesetzt. Das Wasser oben war absolut trinkbar. Papa, ich werde Umwelttechnik studieren. Brunnen bauen, Ressourcen erschließen. »
Mit nur anderthalb Sätzen hatte er es verdorben:
«Da solltest du einmal bei uns im Keller des Instituts schauen. Forstrat Schauberger hat in dieser Hinsicht bereits vor über hundert Jahren Erstaunliches zuwege ge…!» Jählings schlug er sich die Hand vor den Mund.
Euphorisiert blickte sie ihn an. «Was? Bei dir in der Firma? Aber gerne! Interessiert mich. Ich bin ja so neugierig. Was ist? Was hast du da? Was gibt es da bei Euch im Keller?»
Sie war Feuer und Flamme. Und er saß da mit einem roten Kopf, traute sich nicht weiter zu sprechen, lebte das Dilemma seines Lebens vor dem eigen Fleisch und Blut.
«Passt net. Mir fällt gerade ein, dass ich dir die Kellerräume und das Lager überhaupt nicht zeigen darf. Entschuldige bittschön, leider verhält sich das so. Weißt du, der Zugang ist nur Geheimnisträgern und für Eingeweihte gestattet. Schweigepflicht halt. Tut mir wirklich leid, mein Engel.»
Sie nahm ihm das Zeugnis aus der Hand, das er gerade noch studieren wollte und schmiss es achtlos neben den Obstsalat. So wütend hatte er sie noch nicht gesehen. «Was meinst du mit Geheimnisträger? Wie soll ich das verstehen? Rede bitte vernünftig mit mir!»
«I derfs halt net, mein Engel.»
Da geschah es. Auf einmal wechselte sie ihre Augenfarbe. Blau.
«Engel. Engel. Engel hin, Engel her!»
Mit einem scharfem Knarren schob sie den Stuhl vom Küchentisch, erhob sich, stampfte mit dem Fuß auf, schmiss die Serviette auf den halbvollen Teller, verzog sich in die hinterste Ecke der Küche, stand schwer atmend dort mit verschränkten die Arme und fixierte ihn: «Was darf dein Engel nicht? Und vor allem, warum nicht? Ich bin doch deine Tochter?»
«Ich habe es unterschrieben, ich wollt, es wäre nicht so! Die Schweigepflicht gilt vor allem auch für Familienmitglieder. Es tut mir leid.»
Da ging sie auf ihn zu, ganz langsam. Sie war wieder sehr ruhig und beherrscht, so sehr, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Dann schaute sie ihm mitten zwischen die Augen.
«Cord!»
Immer wenn sie ihn mit dem Vornamen ansprach, wusste er, dass die väterliche Autorität verspielt war.
«Ich hab immer gedacht, wir könnten über alles reden. Jetzt sehe ich, dass wir uns über nichts austauschen können, was mir wirklich etwas bedeutet. Über gar nichts. Da kann ich genauso gut gehen. Wollte dir schon längst sagen, dass ich vorhabe, zur Tante nach Wien zu ziehen, um dort zu studieren. Wo ich nun seh, dass du so viele Geheimnisse vor mir hast, mag ich am liebsten sofort gehen. Es ist an der Zeit für einen Tapetenwechsel. I mag nimmer. S‘langt mir.» Sie warf ihm den finstersten Blick seines Lebens zu, bevor sie die Tür knallend in ihrem Zimmer verschwand. Eine halbe Stunde später ein kurzes Abschiedswort – «Ade, Papa», die Haustür klappte und dann war sie fort.
Das war es dann wohl mit der Wohngemeinschaft.
Seit zwei Wochen wohnt sie bei der Tante in Wien. Wenigstens ist sie noch in der Nähe. Zum Geburtstag und zu Weihnachten würden Ansichtskarten eintrudeln – wenn er Glück hat. Sie interessiert sich für Afrika. Das ist sehr weit weg. Wie eine Drohung.
Vor seinem inneren Auge tanzt sie in der Sonne, nach Wüste und Wind duftend, bis sie einen Sonnenstrahl ergreift und auf ihm reitend zwischen dem üppigen Blattwerk des Jasmins entschwindet.
«Und wenn Zeit in Wirklichkeit nicht existiert?», brummelt er halblaut vor sich hin, schielt dabei auf seine verhornten, verbogenen Fußnägel, will sich gut zureden.
«Wenn sie morgen kommt, werde ich sie in die Arme schließen, als wäre nichts geschehen. Als wäre nichts geschehen. Oh, Hanneken, ob du mir wohl wirst verzeihen können?», seufzt er vor sich hin, zupft immer wieder an seinem roten Rauschebart, reißt sich vereinzelte graue Haare aus.
Ein Schatten legt sich auf sein Gesicht. Er wird sich zukünftig auf ein Leben ohne sie einstellen müssen. Erst nach der Präsentation von Bulgakov kann er wieder auf sie zugehen, einen neuen Annäherungsversuch versuchen. Vielleicht gibt es ja noch eine Chance. Wenigstens vertragen könnte man sich.
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