«Bis dahin haben wir alle noch ein bisserl an unserer Makellosigkeit zu arbeiten, nicht wahr, nicht? Vor allem Sie! Sie meinen es doch ernst, oder?»
«Why not?», versuche ich es altklug, weil ich sicher bin, einen US-amerikanischen Akzent herausgehört zu haben. Spiegel nickt, geht locker darüber hinweg, dass ich eine englischsprachige Herkunft erahne.
«Lassen Sie sich als Erstes sagen, was Sie benötigen. Es ermangelt Ihnen nämlich, neben Ihrer zu saloppen Kleidung, noch an etwas anderem, viel Wesentlicherem. Eventuell interessiert Sie das ja, ich möchte mich nicht aufdrängen.»
Luft holen, ruhig atmen, Klappe halten. Abnicken. Er bestätigt meine Reaktion ebenfalls mit einem Kopfnicken.
«Zunächst einmal sollten Sie abwarten können. Wie ein Jäger in seinem Hochsitz im Morgengrauen. Denken Sie immer daran, dass es so etwas wie Zeit nicht gibt. Wir kennen das einfach nicht. Schauen Sie, Ascher, Sie zum Beispiel. Dies ist ihr Leben – in einer Nussschale.»
Er beschreibt meinen längst verstorbenen Vater und mich, die kleine Wohnung am Nordrand des Ruhrgebiets in der Bergmannssiedlung, erwähnt sogar den Leberfleck auf meinem Rücken. Er schafft mich. Erschöpft sinke ich zurück in den Stuhl, stiere gedankenlos vor mich hin.
«Das Zweite ergibt sich aus dem Ersten», lächelt er und schnuppert kurz an der Nelke am Revers.
Wie? Was?
«Was für die Zeit gilt, hat, wie Sie eventuell erahnen können, immer auch für den Raum in gewisser Weise eine Bedeutung. Was ist der Raum denn mehr als eine Konstruktion, die uns die Illusion vorgaukelt, dass es voneinander getrennte Objekte gäbe? Where do you want to go today? Jemand wie Sie könnte überall etwas werden. Besonders bei Ihren Talenten, der naiven Neugier und Kommunikationsfähigkeit. Indes: Das Maß der Sichtbarkeit hängt davon ab, wie weit Sie in der Lage sind, sich unsichtbar zu machen, um von der Bildfläche zu verschwinden. Schauen Sie!»
Nun beugt er sich vor. Ich möge mich auf seine Cappuccino-Tasse konzentrieren. Nur die Schaumkrone hat er ab geschlürft, und ich sehe eine wabernde, rehbraune Melange vor mir und seine Lippenabdrücke am Tassenrand. Mit der linken Hand wedelt er kurz über die Öffnung der Tasse und der hellbraune Milchkaffee verwandelt sich plötzlich in einen reinen Kaffee schwarz! Während ich noch mit offenem Mund auf den Kaffeetopf starre, ergreift er das Milchkännchen:
«Ich mag ihn eigentlich lieber mit Sahne», und gießt sich aus dem Kännchen nach, bis der Inhalt seiner Tasse wieder die ursprüngliche rehbraune Farbe angenommen hat.
Ich fühle mich so erschöpft, möchte nur noch liegen.
«Ein Letztes, und dann lass ich Sie auch in Ruhe – für heute. Sie sollten sich mehr und besser entspannen, den Körper schonend und pfleglich behandeln, auf keinen Fall zu viel Koffein zu sich nehmen, mehr schlafen. Es geht um Sie, um Ihre Energie. Öffnen Sie Ihren Geist und passen Sie auf sich auf. Sie werden noch gebraucht, eventuell.»
Spiegel räuspert sich: «Wenn Sie mich jetzt kurz entschuldigen würden. Wir sehen uns noch. Haben Sie einen schönen Tag.»
Er steht auf, tippt sich an den Hut und verschwindet durch eine Tür in Blickweite auf der Herrentoilette. Ich sitze da, sage nichts, denke nichts, fühle nichts, starre in die Richtung der nur wenige Schritte entfernten Tür mit dem großen «H».
Eine halbe Stunde lang verharre ich reglos, bis ich selbst den Wunsch verspüre, den Waschraum aufzusuchen, um mir die Hände zu waschen.
Der Mann in Schwarz ist fort, obwohl ich genau sah, wie er den Raum durch diese Tür betrat. Die Toilette hat vergitterte Fenster. Überhaupt kennt niemand einen Herrn namens Spiegel hier.
Ich verlasse den Ort, setze mich ins Auto, drehe mir eine Zigarette. Sie schmeckt metallisch, und ich werfe sie aus dem Fenster. Das war es jetzt erst einmal. Schluss mit dem Rauchen. Mein Leben ist dabei, sich zu verändern.
Behutsamer als sonst fahre ich mit dem Auto nach Hause, dusche, falle auf dem Bett in einen tiefen, zwölf Stunden währenden, traumlosen Schlaf. Als ich glaube, ausgeschlafen genug zu sein, fühle ich mich, als ob jemand in meinem Kopf herumgeschraubt hätte. Wie auf einem Trip, an diese Selbsterfahrung aus der Hippiephase erinnere ich mich, gehe ich auf die Straße, kutschiere geistesabwesend in den Sender, spule routiniert in fünf Minuten und zehn Sekunden einen Bericht von der Konferenz ab, kehre geradewegs zurück in die Horizontale, ruhe weitere acht Stunden. Von diesem Tag an bin ich nicht mehr hypnotisierbar, denn wahrscheinlich befinde ich mich schon in einem Trancezustand, von dem ich ahne, dass ich ihn, wenn alles nach Plan läuft, nie wieder verlassen werde.
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