Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion Spannungsfelder schulischer Beratung
Professionalität der Beratung
Geschichte der Schülerkontrolle
Warum Staat und Berater/innen neu denken müssen
Der vorliegende Text besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil befasse ich mich im Wesentlichen mit Beratungsverständnissen schulischer Beratung. Erhalten das „Subjekt“, der menschliche Faktor, der Mensch, den ihnen zustehenden Platz im Geschehen der Schule? Der Druck, sich in obrigkeitliche Strukturen und Interessen an- und einzupassen nimmt zu. Was aus dem Entwicklungsziel des aufgeklärten, mündigen Bürgers wird, scheint nicht mehr der Rede wert. Wie ist da „Professionalität“ zu verstehen?
Im zweiten Teil befasse ich mich ausführlich mit der Hamburger „Schülerkontrolle“, Vorläuferin der Schülerhilfe und der ihr folgenden Beratungsorganisationen. Ursprünglich hatte ich nicht geplant, dazu einen eigenen Aufsatz zu schreiben. Jedoch war so viel interessantes Material im Hamburger Staatsarchiv und in der Parlamentsdatenbank der hamburgischen Bürgerschaft vorhanden, dass ich Einiges davon in einem eigenen Aufsatz zusammengestellt habe. Das zog weiteres Nachdenken nach sich ...
So überrascht es nicht, dass sich Inhalte in Teil I und Teil II teilweise ähneln.
Zum Autor:
Jürgen Mietz ist Diplom-Psychologe und Supervisor (BDP), arbeitete viele Jahre in schulpsychologischen Beratungsstellen
schulpsychologie.mietz@posteo.de
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März 2017, um Schreibfehler korrigierte Fassung 9/2018
1 Spannungsfelder der Beratung 1 Spannungsfelder der Beratung Beratung in der Schule ist umstritten. Wer macht sie? Welchem Zweck dient sie? Wem nutzt sie? Wem gehört „die“ Beratung (die es in so eindeutiger Bestimmung nicht gibt)? Wer verfügt über sie? Hintergründe für Meinungsverschiedenheiten und Streit sind vielfältig. Beratung ist ein „weites Feld“. In Zeiten der Unübersichtlichkeit, der Probleme und Herausforderungen, lauert sie überall. Beratung ist eine Boombranche. Sie vermittelt uns den Eindruck, wir seien nicht allein mit unseren kleinen und großen Sorgen der Lebensbewältigung. Wir werden betreut. Und die Berater/innen tun per se Gutes, ist in der Regel ihre Überzeugung. In zahlreichen Berufen gehören basics der Beratung zur Grundqualifikation. Man könnte sagen: Beraten ist eine Allerweltstätigkeit und -fähigkeit. Was gibt es da zu diskutieren? In Bezug auf Schule kann sie unterschiedliche Funktionen annehmen. Beratung kann heißen, Informationen weiterzugeben, die mehr oder weniger neutral sind und mir eine selbstständige Entscheidung erleichtern. „Beraten“ kann heißen, jemandem zu sagen, was er besser tun oder lassen sollte, wenn er oder sie „vernünftig“ sein und die „wirklichen“ Verhältnisse berücksichtigen wolle. Man kann es von „gleich zu gleich“ sagen, oder „von oben herab“. Beratung soll mich frei(er) machen – aber wie kann sie das, wenn der Ratgeber eine Person ist oder eine Institution, der ich mehr oder weniger ausgeliefert bin, wenn ich keine praktische Alternative zu ihnen habe? Beratung umfasst also ein weites Spektrum und
1 1 Spannungsfelder der Beratung Beratung in der Schule ist umstritten. Wer macht sie? Welchem Zweck dient sie? Wem nutzt sie? Wem gehört „die“ Beratung (die es in so eindeutiger Bestimmung nicht gibt)? Wer verfügt über sie? Hintergründe für Meinungsverschiedenheiten und Streit sind vielfältig. Beratung ist ein „weites Feld“. In Zeiten der Unübersichtlichkeit, der Probleme und Herausforderungen, lauert sie überall. Beratung ist eine Boombranche. Sie vermittelt uns den Eindruck, wir seien nicht allein mit unseren kleinen und großen Sorgen der Lebensbewältigung. Wir werden betreut. Und die Berater/innen tun per se Gutes, ist in der Regel ihre Überzeugung. In zahlreichen Berufen gehören basics der Beratung zur Grundqualifikation. Man könnte sagen: Beraten ist eine Allerweltstätigkeit und -fähigkeit. Was gibt es da zu diskutieren? In Bezug auf Schule kann sie unterschiedliche Funktionen annehmen. Beratung kann heißen, Informationen weiterzugeben, die mehr oder weniger neutral sind und mir eine selbstständige Entscheidung erleichtern. „Beraten“ kann heißen, jemandem zu sagen, was er besser tun oder lassen sollte, wenn er oder sie „vernünftig“ sein und die „wirklichen“ Verhältnisse berücksichtigen wolle. Man kann es von „gleich zu gleich“ sagen, oder „von oben herab“. Beratung soll mich frei(er) machen – aber wie kann sie das, wenn der Ratgeber eine Person ist oder eine Institution, der ich mehr oder weniger ausgeliefert bin, wenn ich keine praktische Alternative zu ihnen habe? Beratung umfasst also ein weites Spektrum und
Die Funktion von Beratung Die Funktion von Beratung Welchen Sinn und welche Funktion kann und soll Beratung haben? Sie kann der Selbstbestimmung, der Klärung des eigenen Weges dienen und damit befreiende Wirkung haben. Tests, biografische Analyse u.a.m. können für die Abklärung und Meinungsbildung genutzt werden. Beratung kann mit diesem Instrumentenkoffer aber auch als Mittel der Steuerung eingesetzt werden. Die Ziele, Werte, Methoden Aufgabenzuweisungen der „Besteller und Finanzierer“ gelten darin als im Kern vernünftig und unhintergehbar. Es geht darum, „Abweichler“, Gehandicapte, Gescheiterte oder vom Scheitern bedrohte Menschen mit Feingefühl in vorgegebene Muster (Fördermodule) „hineinzuprozessieren“ (siehe weiter unten), damit sie geordnet ihren Bildungsweg zu gehen vermögen. Pädagogische oder psychologische Tests können dabei die Rolle der Lenkung und Legitimation von Entscheidungen übernehmen. Ebenso kann es der Analyse von Biografien, Lern- und Entwicklungsverläufen ergehen, die der subjektiven Bedeutungsklärung dienen und den Einzelnen in seinem „intimen Innenraum“ ansprechen. Was für ein (Selbst-) Verstehen der Person und zur Stärkung ihrer Selbstbestimmung geöffnet wird, kann ihr zum Zwecke der optimierten Steuerung enteignet werden. Die subjektorientierte Beratung fragt, was die aktuellen Schwierigkeiten mit den Lebenserfahrungen und den daraus gebildeten Bedeutungszuschreibungen des Subjekts zu tun haben. Welche Erfahrungen, Nöte, Verluste, Brüche und Notwendigkeiten stehen hinter einer „Lernstörung“ oder einer Unfähigkeit, „Konsequenz“ zu praktizieren oder Nähe und Abstand zu regulieren? Solche Beratungsperspektive kommt nicht aus der Übernahme schulsystematischer Erfordernisse (Schulpflicht, Leistung) zustande, sondern aus der Anerkennung subjektiver Erfahrung des Gegenübers und dem Bestreben, ihm Einsicht in sein Leben und Lernen zu ermöglichen. Was nicht heißt, die Forderungen der Schule zu ignorieren, wohl aber, dass der Berater nicht als ihr Repräsentant auftritt und sich so fühlt. Das ist umso schwerer, je stärker schuladministratives Denken auf die Beratungsorganisation durchschlägt. Das kann vielerlei Gestalt annehmen, zum Beispiel die, Meldestelle für Verstöße gegen die Ordnung sein zu müssen, oder per Gutachten über Zuteilung/Nichtzuteilung von Ressourcen zu entscheiden. Das formt die Beratungskultur, das Image und damit auch die Inanspruchnahme. Nicht jede Mutter oder
Legitimation durch Beratung Legitimation durch Beratung Trotz aller Widersprüche des Schulsystems (die es teilweise seit der Gründung birgt), kommt es darauf an, dass es als legitim und gerecht erscheint. In diese Aufgabe ist Beratung verwickelt. Zum Besipiel, wenn es um Teilhabe an oder Ausschluss von begrenzten Fördermitteln geht. Die Beraterin, die frei, unabhängig und ergebnisoffen beraten möchte, tritt ihrer Klientel mit einem anderen (mehr oder weniger still lancierten Spar-) Auftrag gegenüber. Für einen Lehrer mag das nicht überraschend sein, ist er doch in der Regel ein eingeübter Akteur in
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