Tendenzen der Deprofessionalisierung Tendenzen der Deprofessionalisierung Wenn eine Behörde ein verzweigtes Förder-Optimierungssystem einrichtet, entstehen Abgrenzungs-, Zuweisungs- und Steuerungsnotwendigkeiten. An freier, ergebnisoffener Beratung hat sie weniger Interesse. Einem Verständnis von Beratung als Steuerung stehen Psychologen und weitergebildete Beraterinnen in der Tendenz eher fern, sodass sie leicht als widerständig und subversiv erscheinen mögen. Im ungünstigen Fall könnte ein derartiger Konflikt durch eine Organisationsveränderung „aufgelöst“ werden. So, oder so ähnlich könnte es in Hamburg bei der Neuorganisation der Schulberatung im Jahre 2000 – in Verbindung mit anderen schulischen Problemlagen (die Verhaltensgestörtenschulen sollten aufgelöst werden, die Lehrer brauchten zum Teil einen neuen Arbeitsort, Schulpsycholog/inn/en galten als schlecht erreichbar) – gegangen sein. Seinerzeit wurden Lehrer und Sonderpädagogen durch die Neugründung einer Organisation gleichsam zu Beratern. Es blieb nicht aus, dass Berufsgruppen, wie die Schulpsychologen und professionell Beratende, die auf Grundprinzipien der Beratung bestanden, ins Abseits gerieten. Die spätere Praxis hielt mit den guten Vorsätzen und Papieren der Gründungsphase nicht mit. Von einer „(Sonder-) Pädgogisierung“ der Beratung war die Rede. Die administrativen Aufgaben nahmen zu. Ein Schub für Deprofessionalisierung der Beratung kann allerdings auch von „klassischen“ Berufsgruppen professioneller Beratung ausgehen. Psychologinnen und Psychologen treten nach dem Studium möglicherweise mit weniger Beratungsknow-how und weniger definiertem Beratungsinteresse ihre Arbeit an. Gemeint ist hier, was schon häufiger an Kritik zu hören ist: Die Ausbildung im Psychologiestudium sei verschult, technokratisch, testlastig, weniger auf Persönlichkeits- und Subjektentwicklung und Kenntnis ihrer Rahmenbedingungen angelegt als das in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag[Fußnote 4]. Folge solcher Entwicklungen ist, dass ein Reflexionsprozess über Beratung und ihre Rahmenbedingungen in behördennahen Beratungsorganisationen schwerer wird. Die Wirkungen der Institution und der Institutionsdynamiken auf die Beratung treten kaum ins Bewusstsein – eine systematische Unterschätzung der Kontexte beratender Arbeit findet statt. Denkbar, dass das billigend in Kauf genommen wird oder gar gewollt ist. Postdemokratie und Entfesselung der Wirtschaft haben vermutlich viele Gesichter. Wie
2 Beratung als Ordnungsfunktion – eine historische Skizze 11
Schulpflicht
Das Mannheimer Schulmodell
Schülerkontrolle und Schülerhilfe in Hamburg
3 Subjektorientierte Beratung: ein verständigungsorientierter Möglichkeitsraum 21
4 Beratung als Instrument der Demokratisierung und Emanzipation 25
Manageriale Steuerung auf dem Vormarsch
5 Gouvernementale Beratungsformate 31
Ausschluss, Schuld, Scham
Kritik der systemischen Beratung
Kontext und Feststellung einer Ratbedürftigkeit
6 Verständigungs- und subjektorientierte Beratungsformate 38
7 Überlegungen zur Professionalität 41
1 Die Gegenwärtigkeit des Vergangenen 47
2 Die Schülerkontrolle und der Kontext ihrer Gründung 49
Schule und Bildung als Verhandlungsmasse
3 Fortbildungsschulpflicht und Schülerkontrolle 57
3.1 Die ersten Jahre der Schülerkontrolle
3.2 Am 5. November 1930
3.3 Schülerkontrolle/Schulfürsorge ab 1933
4 Von der Schülerkontrolle/Schulfürsorge zur Schülerhilfe – ein Neubeginn? 80
4.1 Beratung als staatliches fürsorgerisches Handeln
5 Ratbedürftigkeit in einer Nachkriegsgesellschaft 90
Gesellschaftliche Veränderungen
5.1 Suche nach neuen Wegen – Modernisierungsbedarf
5.2 Neue Beratung in überlieferten Strukturen
6 Fazit 97
Teil I
Wovon reden wir, wenn wir von Beratung reden?
Warum schulische Beratung unabhängig und ergebnisoffen sein muss
1 Spannungsfelder der Beratung
Beratung in der Schule ist umstritten. Wer macht sie? Welchem Zweck dient sie? Wem nutzt sie? Wem gehört „die“ Beratung (die es in so eindeutiger Bestimmung nicht gibt)? Wer verfügt über sie? Hintergründe für Meinungsverschiedenheiten und Streit sind vielfältig. Beratung ist ein „weites Feld“. In Zeiten der Unübersichtlichkeit, der Probleme und Herausforderungen, lauert sie überall. Beratung ist eine Boombranche. Sie vermittelt uns den Eindruck, wir seien nicht allein mit unseren kleinen und großen Sorgen der Lebensbewältigung. Wir werden betreut. Und die Berater/innen tun per se Gutes, ist in der Regel ihre Überzeugung. In zahlreichen Berufen gehören basics der Beratung zur Grundqualifikation. Man könnte sagen: Beraten ist eine Allerweltstätigkeit und -fähigkeit. Was gibt es da zu diskutieren?
In Bezug auf Schule kann sie unterschiedliche Funktionen annehmen. Beratung kann heißen, Informationen weiterzugeben, die mehr oder weniger neutral sind und mir eine selbstständige Entscheidung erleichtern. „Beraten“ kann heißen, jemandem zu sagen, was er besser tun oder lassen sollte, wenn er oder sie „vernünftig“ sein und die „wirklichen“ Verhältnisse berücksichtigen wolle. Man kann es von „gleich zu gleich“ sagen, oder „von oben herab“. Beratung soll mich frei(er) machen – aber wie kann sie das, wenn der Ratgeber eine Person ist oder eine Institution, der ich mehr oder weniger ausgeliefert bin, wenn ich keine praktische Alternative zu ihnen habe? Beratung umfasst also ein weites Spektrum und
die unterschiedlichsten Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Bei all dem soll sie Vertrauenssache sein.
Welche Folgen hätte es, wenn ich meine geheimen Wünsche, Ängste etc. gegenüber einem Lehrer offenlege, oder wenn die Lehrerin in einer Beratungsstelle gegenüber einem pädagogischen, sozialpädagogischen oder psychologischen Berater ihre Sorgen mit Kollegen, oder Schülern offenlegt? Könnte sie sicher sein, dass ihre Worte geschützt sind? Müsste sie befürchten, dass der Berater in eine bestimmte Richtung berät, weil er in seiner Dienststelle nicht unabhängig ist, sondern er von der Behörde, der auch sie angehört, für Steuerungsaufgaben eingesetzt wird? Eine Fülle von Fragen und Zweifeln, die im Umfeld schulischer Beratung auftauchen. Und das sind noch nicht alle. So viel aber ist sicher: Beratung ist Vertrauenssache. Sobald es um mehr als informatorische Beratung und um Belehrung geht, wird sie zu einer persönlichen Angelegenheit. Will Beratung ihren Zweck erreichen, Einstellungen, Haltungen, Erkenntnis in den Blick zu nehmen, um Spielräume für Entwicklung zu gewinnen, braucht sie einen Rahmen, der Heikles, wie Unsicherheit, Scham, Schuldgefühl, zulässt.
Schulbezogene Beratung wird häufig von Schulpsychologe/Inn/en betrieben, und überwiegend in schulpsychologischen Diensten oder schulpsychologischen Beratungsstellen. Wir haben aber auch den Fall, dass in Beratungsstellen Menschen unterschiedlicher beruflicher Herkunft arbeiten, zum Beispiel Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen, Psychologinnen. Hat jede Berufsgruppe ähnliche Vorstellungen von Beratung, von ihren Inhalten, von dem, was zu einem Beratungsprozess gehört? Zweifel sind angebracht, denn es ist möglich, dass über das, was in einer Beratung und in einer Institution geschieht, unterschiedliche Auffassungen bestehen – und sie miteinander konkurrieren. Für die einen ergeben sich Ziel, Zweck und Inhalt der Beratung aus dem Grundberuf Lehramt heraus. Für die anderen ist das problematisch; sie sehen Beratung als voraussetzungsreichen Prozess, der sich nicht unreflektiert aus einem (administrativ verstrickten) Beruf ergeben sollte. Beratung halten sie für ein eigenes Fachgebiet, genannt professionelle Beratung, erworben in speziellen Weiterbildungen.
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