Jürgen Mietz ist Diplom-Psychologe,
arbeitete bis 2014 als Schulpsychologe und Supervisor
Bloggt gelegentlich unter schulpsychologie-mietz.com (oder schulpsychologie.wordpress.com)
und freut sich, wenn Psychologinnen und Psychologen eine subjektorientierte Psychologie stärken, gesellschaftsbewusst analysieren und beraten und historische Ansätze nutzen.
Texte: © Copyright bei Jürgen Mietz, 2022
Umschlaggestaltung Jürgen Mietz.
Verlag: Jürgen Mietz, psych-kontexte.jm@posteo.de
Druck epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Jürgen Mietz
Die Beugsamen
Überlegungen zum Charakter ethischer Leitlinien in der Gegenwartspsychologie
Ein Essay
März 2022
Dieser Titel muss angepasst werden
1 Notwendigkeit und Flüchtigkeit ethischer Leitlinien
Warum dieser Text?
Schätze, die gehoben werden können
2 Professionalisierungsstreben und Ethik in den Anfängen der Psychologie
Schulbezogene Beratung und staatliche Ordnungsfunktion
Die Andienung des Hans Lämmermann
»Erfordernisse der Praxis«
Psychosoziale Versorgung und Staatsnähe
Gelegenheit beim Schopf gegriffen – das Psychologiediplom als Ergebnis nationalsozialistischer Interessenpolitik
Vorläufiges Fazit
3 Psychologie und Sozialwissenschaften im ethischen Niemandsland?
Das gemeinsame Papier »Herausforderungen, Ziele und Maßnahmen ...«
Lower Class Mindset – Seriosität durch Distanzierung?
Einige Anmerkungen zum Strategie- und Schockpapier vom März 2020
4 Forschung im Regierungsauftrag
Psychologinnen und Psychologen im Schlepptau der Macht
5 Ansätze einer emanzipatorischen Psychologie und Widerspruch
Stellungnahme der NgfP
Das Schweigen der Psychologen
Proteste in Psychotherapeutenkammern
Landesverband Schulpsychologie NRW und Kinderschutzbund NRW
Philosophisch-psychologische Versuche, zu verstehen
6 Was ist in einer Epoche ethisch?
Beispiel Ausnahmezustand und Notwehr
Fließende Übergänge und schiefe Ebenen
Effizientes Zusammenspiel von Polykratie und Grundstimmung
Optimierung – Überlegenheit – Hierarchisierung
Ohne Vermessung und Verwertung keine Optimierung
Eskalation der Ausgrenzung
Legitimität des Vergleichens
7 Der Reiz der Nähe zur Macht – oder die reibungslose Integration der Psychologie in wechselnde Gesellschaftsformen
8 Ethik – ein „must have“ im Profilierungsrennen der Professionen?
Ethik in der Öffentlichkeit
Ethikrat
Eine neue Ethik braucht das Land
9 Literatur
1 Notwendigkeit und Flüchtigkeit ethischer Leitlinien
Warum dieser Text?
Anlass zu den folgenden Überlegungen gab die Rolle der Psychologie in der andauernden „Coronakrise“. Welche Rolle konnten und sollten Psychologinnen und Psychologen spielen? Mit welcher Haltung und Orientierung traten sie Ratsuchenden und Klienten und Klientinnen gegenüber? Der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) preschte mit einer Stellungnahme nach vorn und gab sich als Dienstleister der Regierungspolitik zu erkennen. Andere Verbände (s.u.) definierten ihre Rolle abweichend, auch in meinem persönlichen Bekanntenkreis stieß die BDP-Position auf Skepsis. Nicht zum ersten Mal, aber nun mit neuer Dringlichkeit stand die Frage im Raum, welchen Stellenwert ethische Leitlinien für die Psychologen haben können. Haben Sie noch eine praktische Bedeutung oder sind sie nur noch Material zur Veredelung von Strategien der Institutionalisierung cleverer Verbandsvertreter?
Die Arbeit von Psychologinnen und Psychologen wird mit hohen, wertvollen Zielen menschlicher Entwicklung in Verbindung gebracht. So heißt es in den Berufsethischen Richtlinien des BDP (2016):
»Psychologinnen und Psychologen: Achten die Würde des Menschen und respektieren diese in ihrem Handeln;
erkennen das Recht des Einzelnen an, in eigener Verantwortung und nach eigenen Überzeugungen zu leben;
fördern Möglichkeiten der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung und tragen zur Gewährleistung fördernder Rahmenbedingungen bei«.
Zu den ethischen und fachlichen Grundlagen nennt der Berufsverband weiter: »Verständigung im sozialen Zusammenleben«, »fördern gegenseitigen Respekt[s]«, »fördern ein redliches Miteinander«.
In einem anderen Abschnitt heißt es:
»... erbringen aufgrund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Dienstleistungen im Interesse des Auftraggebers und der Allgemeinheit.«
Hier – im Spannungsbogen zwischen eigenverantwortlichem Handeln, Interesse des Auftraggebers und des Interesses der Allgemeinheit – deutet sich an, was an Konfliktstoff und Dilemmata auf Psychologen zukommen kann. Im Abschnitt 3.5 der berufsethischen Richtlinien heißt es dann noch einmal:
»Psychologinnen und Psychologen
unterstützen Individuen, Organisationen und die Gesellschaft darin, Verständigung, Gerechtigkeit und Frieden im sozialen und beruflichen Miteinander zu fördern und die Bedingungen des sozialen Lebens gesundheitsförderlich zu gestalten;«
Bei der Sektion Schulpsychologie im BDP heißt es in der Broschüre »Schulpsychologie in Deutschland (2018) u.a. im Abschnitt der berufsethischen Grundsätze, man wolle Eltern und Schulen in deren Bemühen unterstützen, den Anspruch des Kindes und Jugendlichen
»auf Erziehung und Bildung, auf die ihm [dem Anspruch]entsprechende Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf eine altersgerechte und zukünftige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erfüllen.«
Im gleichen Papier heißt es unter »Arbeitsprinzipien« u.a.
»Beratung und fachliche Stellungnahmen von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind von Weisungen unabhängig, dazu ist eine neutrale Position im Schulsystem unabdingbar.«
Beim Landesverband Schulpsychologie in NRW (2016) hat man sich vorgenommen, »Beiträge ... zur Humanisierung der Schule sowie zur Entwicklung der Einzelpersönlichkeit und der schulischen Organisation« zu leisten.
Ethische Leitlinien oder Grundsätze sollen der eigenen Berufsgruppe, aber auch der Öffentlichkeit verdeutlichen, dass persönliche gute Absichten noch nicht zu guten Ergebnissen und zur Zufriedenheit führen müssen. Es muss ein Rahmen gesetzt sein, der Verpflichtungen und Aufgaben überindividuell, ethisch-moralisch begründet. Transparenz der Interessen und Klarheit der Verpflichtungen gegenüber anderen „Parteien“ sollten gegeben sein. Ein hohes Gut in allen Leitlinien sind Unabhängigkeit vom Arbeit- und Geldgeber, Neutralität und Ergebnisoffenheit, sowie Kommunikation im Falle von Interessenkonflikten, die sich auf Inhalt und Ergebnis von Beratungen auswirken. Eine hohe Sensibilität der Psychologin und des Psychologen sind gefragt, denn im Lauf der Jahrzehnte haben die Einwirkungsversuche von Institutionen auf den beraterischen und therapeutischen Prozess zugenommen – im Namen einer ressourcenschonenden Steuerung, im Namen von Effizienz. Implizite und explizite Nahelegungen der politisch-verwaltungsmäßigen Spitzen an die Ebene der Praktiker sind ein ständiger Einwirkfaktor auf das, was man Unabhängigkeit des Beraters und Vertrauensverhältnis zwischen Beraterin und Klient nennt. Zu fragen ist, ob angesichts solcher Entwicklungen, die noch immer gepflegte Vorstellung einer „Unabhängigkeit“ nicht eine Illusion ist, die das eigene berufliche Tun „adelt“, aber nicht mehr von den Tatsachen gedeckt ist.
Die ärztlichen Standards der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit dürften für die psychologischen Berufe eine Orientierung gegeben haben. Als unverrückbares Grundgesetz, das nie in Zweifel gezogen werden kann, scheint es zum Gepäck der Berater/innen zu gehören.
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