Ein Schub für Deprofessionalisierung der Beratung kann allerdings auch von „klassischen“ Berufsgruppen professioneller Beratung ausgehen. Psychologinnen und Psychologen treten nach dem Studium möglicherweise mit weniger Beratungsknow-how und weniger definiertem Beratungsinteresse ihre Arbeit an. Gemeint ist hier, was schon häufiger an Kritik zu hören ist: Die Ausbildung im Psychologiestudium sei verschult, technokratisch, testlastig, weniger auf Persönlichkeits- und Subjektentwicklung und Kenntnis ihrer Rahmenbedingungen angelegt als das in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag[Fußnote 4].
Folge solcher Entwicklungen ist, dass ein Reflexionsprozess über Beratung und ihre Rahmenbedingungen in behördennahen Beratungsorganisationen schwerer wird. Die Wirkungen der Institution und der Institutionsdynamiken auf die Beratung treten kaum ins Bewusstsein – eine systematische Unterschätzung der Kontexte beratender Arbeit findet statt. Denkbar, dass das billigend in Kauf genommen wird oder gar gewollt ist. Postdemokratie und Entfesselung der Wirtschaft haben vermutlich viele Gesichter. Wie
dem auch sei: Eine verantwortliche, reflektierte professionelle Haltung, hätte das Zusammenspiel von Institutionsdynamiken und persönlichen Dynamiken (Schüler, Eltern, Lehrerinnen, Leitungsebenen, Beraterinnen) in den Blick zu nehmen.
Vor einer weiteren Beschreibung der Gegenwart hilft vielleicht, zurückzuschauen und zu erkennen, um was es geht.
2 Beratung als Ordnungsfunktion – eine historische Skizze
In den 1920 er Jahren stellten politische Umbrüche, revolutionäre Bewegungen und wirtschaftlich-soziale Spannungen die bürgerlich-konservative Ausrichtung der jungen Republik infrage. In der Frage, wie sie sich organisieren sollte, spielte auch das Schulwesen eine bedeutende Rolle. Es musste auf Öffnungs- und Gerechtigkeitsforderungen reagieren. Es kam in einigen Regionen Deutschlands vereinzelt zu „Bildungsoffensiven”. Die Schulpflicht war gerade eingeführt worden, in Mannheim entstand 1921 ein neues Schulsystem, das auch den ersten Schulpsychologen Deutschlands hervorbrachte. In Hamburg wurde die „Schülerkontrolle“ eingerichtet.
Schulpflicht
An dieser Stelle ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die vollständige Schulpflicht im Jahr 1920 mit dem Reichsschulgesetz eingeführt worden war, und zwar in Gestalt des Schulzwangs. (Zuvor hatte es eine mehr oder weniger genau kontrollierte Unterrichtspflicht gegeben, der auf unterschiedlichem Weg nachgekommen werden konnte.) Dem Staat erwuchs daraus die Verpflichtung, ein schulisches Angebot vorzuhalten, in welcher Quantität und Qualität auch immer. Die Schulen und ihr Personal erhielten die Aufgabe der Kontrolle, die Eltern wurden darin eingespannt. Das heißt, sie mussten ein Stück ihrer Freiheit und ihrer Rechte am Kind aufgeben.
Die im Schulgebäude und unter den Bedingungen des Staates zu erfüllende Schulpflicht, eine gemeinsame Schule für einige Jahrgänge und die Verpflichtung zum Schulbesuch boten sicher Lerngelegenheiten für die minderbemittelten Klassen, wie sie damals genannt wurden. Aber diese Teilhabe war auch eine Teilhabe an den Sozialisations- und Unterwerfungsprozeduren des Staates – zumal die Rechtsgrundlagen des Kaiserreichs zur Verwunderung der SPD und der DDP (Deutsche demokratische Partei) im Schulwesen fortbestanden. In wesentlichen Strukturen und schulischen Selbstverständnissen bis in die Gegenwart hinein. Bemühungen, die Schulpflicht in ein Bildungsrecht umzuwandeln oder in eine Unterrichtspflicht, wie sie in fast allen europäischen Ländern existiert, sind daher nur allzu verständlich. (Mehr dazu in Teil II)
Das Mannheimer Schulmodell
Hans Lämmermann, Schulpsychologe, entwickelte ein System der Zuordnung von Schülern zu gestuften Lernleistungsgruppen. Er erarbeitete mit seinen Gruppenuntersuchungen beeindruckende testdiagnostische Fortschritte. Er beförderte damit ein naturwissenschaftlich experimentalpsychologisches Denken in der Psychologie. Nicht selten wird dieses Konzept auch heute als vorbildlich angesehen und nicht selten in (falschen) Gegensatz zu verstehenden, hermeneutischen Ansätzen gebracht. So kam es, dass man Hans Lämmermann als Groß- oder Urgroßvater der Schulpsychologie und Schulberatung in Anspruch nehmen möchte[Fußnote 5] . Das Mannheimer Schulsystem vergrößerte vermutlich tatsächlich für eine Reihe von Schülerinnen die Aussicht auf Bildung im Rahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Was man jedoch übersah, und teilweise auch heute übersieht, war, dass Lämmermann „seine” Psychologie rein funktional im Sinne des staatlichen und wirtschaftsorientierten Interesses einsetzte; die subjektiven Interessen und Lebenswirklichkeiten der Schüler wurden als identisch mit dem Schulsystem gedacht. Der Gedankengang dürfte etwa folgender gewesen sein: Der schulische Erfolg im bestehenden Schulsystem ist die beste Voraussetzung für Lern- und wirtschaftlichen Erfolg und für die Integration in die Gesellschaft.
Spezielle Lebenslagen, biografische Erfahrungen schienen Hans Lämmermann plausiblerweise als bedeutsam für das Lernverhalten, jedoch bezog er das nicht in seine Untersuchungen ein. Der Mensch war nicht als Autor und Mitgestalter seines Lebens vorgesehen. Von Kontrakten, Arbeitsbündnissen, Ebenbürtigkeit war nicht Rede. Was ebenfalls fehlte, war eine ethisch-normative Grundlage Lämmermanns Psychologie.
Zu einer Psychologie und Beratung vom Subjektstandpunkt des Betroffenen aus (Kind, Eltern, Lehrer) mochte sich niemand entschließen. Tasächlich gab es solche Ansätze, unter anderem bei den Psychologen, die wenige Jahre später die Flucht aus Deutschland ergreifen mussten, um ihr Leben zu retten. Die Folgen der Fixiertheit auf „objektive Daten” zeigten sich in aller Krassheit. Die bittere Pointe war, dass Hans Lämmermann die Nationalsozialisten gut 10 Jahre später nach Beginn seiner Arbeiten drängte, die Ergebnisse seiner perfekten Selektionsmethoden und Forschungen für die Umsetzung der Gesetze zur Erbhygiene zu nutzen (a.a.O.).
Schülerkontrolle und Schülerhilfe in Hamburg
Schul- und schulaufsichtsnah war auch die Keimzelle der Hamburger Schülerhilfe, die später zu Rebus und zu den Beratungsabteilungen im ReBBz[Fußnote 6] weiterentwickelt wurde. Sie trug die Bezeichnung »Dienststelle Schülerkontrolle«, gegründet 1920 und war nach Jahren mit der »Schulfürsorge« vereinigt worden. Sie hatte die Aufgabe, den Schulbesuch der Berufsschüler zu überwachen. Sie war ein erster Ausfluss der Schulpflicht. Sie war weder bei Schülern, Eltern noch Arbeitgebern durchgängig beliebt. Schülern leuchtete häufig nicht ein, weshalb sie ihre Zeit in einer Einrichtung wie Schule verbringen sollten. Ihnen und ihren Familien kostete das in wirtschaftlich schlechten Zeiten bares Geld, Arbeitgeber stellten sie oft gar nicht erst ein, wenn sie eine Berufsschule besuchen wollten. Sie waren an billigen Arbeitskräften interessiert.
Neben der Abteilung der »Dienststelle Schülerkontrolle« gab es noch eine Abteilung »Schulfürsorge«. Sie beruhte schon seit den 1880 er Jahren im Wesentlichen auf freiwilliger Arbeit engagierter Lehrer/innen und auf der Spendenbereitschaft reicher Bürger. Die Behörde stellte einige Lehrerstellen zur Verfügung, um dieses Engagement zu unterstützen und zu koordinieren. Beide Abteilungen hatten Berührungspunkte mit der Jugendhilfe und dem Jugendamt.
In der nationalsozialistischen Zeit hatten Schülerkontrolle und Schulfürsorge eine hohe strategische Bedeutung für die „Volksgesundheit”, für die „Wehrkraft” und für die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Ordnung. Die Schülerkontrolle war eine wichtige Schnittstelle zwischen Jugendamt, Schulbehörde und der Parteiorganisation der NSV[Fußnote 7]-Jugendhilfe.
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