›Unfassbar, auf was für Ideen, diese kleinen Racker kommen‹, resümierte der Verstand das Geschehene.
Ich sagte schnell allen anderen Bescheid, dass ich ihn gefunden hatte. Keiner konnte verstehen, wie er sich in der Mittagshitze in diesen in der Sonne liegenden Teppich hatte einrollen können. Kopfschüttelnd lachten und scherzten alle über meinen Sohn.
Ich verkaufte nach wie vor Kuchen und Brot an die Touristen. Die Arbeit füllte mich aber nicht aus wie zuvor. Vieles machte mir nicht mehr allzu große Freude und ich spürte immer stärker, dass mich der Verlust unserer heilen Familie immens stark getroffen hatte. Zudem hatte ich Haus und Hof verloren und stürzte in eine leichte Depression. Wieder Miete zu zahlen war eine monatliche Belastung, die ich lange nicht mehr gehabt hatte.
In Assala, ziemlich weit hinten im Dorf, fühlte ich mich zudem nicht wirklich wohl. Ghanem konnte nicht mehr allein zu seinen Freunden oder der Familie gehen und wenn wir nun ans Meer wollten, musste man einen richtigen Ausflug planen. Meine Freunde bekam ich immer seltener zu Gesicht, da meine Wohnstätte im Dorf nicht annähernd so anziehend war wie unsere Arischa, der selbst gebaute riesige Sonnenschirm aus Palmzweigen, direkt am Strand.
Allein Sahi kam regelmäßig. Es war sehr vertraut mit ihm und eines Tages sagte er mir, dass er die perfekte Lösung für mein Problem mit den Kindern hätte: Ich solle ihn heiraten.
Ich war nicht verwundert über seinen Vorschlag, denn Sahi liebte mich schon, seit ich ihn kannte. Damals war er mir zu jung und unzuverlässig gewesen, um seinem Begehren nachzugeben. Ich hatte ihn zwar immer sehr lieb gehabt, aber nie wirklich geliebt. Seinerzeit entschied ich mich, trotz Sahis deutlicher Annäherungsversuche für Samir, der mich vom ersten Moment an verzaubert hatte. Samir war, genau wie ich, sehr aktiv gewesen und hatte große Ziele im Leben gehabt.
Sahi erklärte, dass ich mir meiner Kinder sicher sein könnte, wenn ich unter dem Schutz seiner Familie stehen würde. Sowohl Sahis als auch Samirs großer Bruder waren hoch angesehene Mitglieder von ein und demselben Stamm, aber von verschiedenen Familienclans. Beide hatten darin eine Vorstandsfunktion inne und würden alles daran setzen, keinen Streit zwischen den Familien aufkommen zu lassen. Nach einer Heirat würde Sahis Sippe seiner Aussage nach dafür sorgen, dass Samir nichts tun würde, das die Parteien in Zwietracht bringen könnte.
Ich sagte Sahi, dass ich darüber nachdenken würde.
Als ich abends im Bett lag und mir über Sahis Angebot Gedanken machte, wurde dieser, zuerst als absurde Idee angesehene Vorschlag von ihm, immer denkbarer. Da ich zudem die Rückendeckung von Samirs Eltern hatte, war dies durchaus ein Plan, der klappen könnte. Ich wusste zudem, dass die beiden großen Brüder befreundet waren.
Ich hatte Sahi wirklich gern und mochte es sehr, wenn er um mich herum war. Ich liebte ihn zwar nicht, aber er war schon immer mehr als ein guter Freund gewesen. Ich hatte ihm von Anfang an alles anvertrauen können. Außerdem mochte ich auch seine Familie sehr gern.
Meine Liebe gehörte nach wie vor Samir, aber dem Samir, der keine Drogen nahm und der nicht all die Dinge getan hatte, die mich zum Auszug aus unserem Haus und zu der Entscheidung, mich von ihm scheiden zu lassen, veranlasst hatte. Den Samir gab es aber nicht mehr. Und den Samir würde es auch nie wieder geben. Selbst wenn mein Mann doch unerwarteterweise je den Drogenkonsum unterlassen könnte, wäre er nicht mehr der Mann, der er einst gewesen war. Es war einfach zu viel kaputt gegangen in den letzten Jahren. Ich hatte jegliches Vertrauen in ihn verloren.
Und genau dieses Vertrauen gab Sahi mir jetzt. Er war da und wollte an meiner Seite sein. Ich hatte ihn lieb und verbrachte gern Zeit mit ihm. Ich wusste, Sahi würde mir nie meine Freiheit nehmen und mir auch keine Eifersuchtsszenen wie Samir machen. Dafür war er einfach nicht der Typ.
Je mehr ich über seinen Vorschlag in den nächsten Tagen nachdachte, desto besser gefiel er mir.
Sahi lud mich einige Male zu seiner Familie zum Essen ein und auch dort fühlte ich mich so gut, wie schon bei den ersten Besuchen. Vor allem die Frauen dort mochte ich sehr gern. Sahi hatte vor einigen Jahren angefangen, sich ein Haus direkt gegenüber dem Anwesen seiner Schwestern zu bauen. Dies zeigte er mir und bot mir an, dort jederzeit einziehen zu können. Es musste noch viel gemacht werden in dem Haus. Bisher war es nur ein solides Fundament mit Mauern, die die einzelnen Zimmer abtrennten. Fenster und ein Dach fehlten noch. Aber es war ein Haus mit Potenzial. Ein Ziegenstall und ein kleiner Garten waren auch vorhanden. Bis zum Meer waren es zwei Minuten.
Sahi zog ein weiteres Ass aus dem Ärmel und ging mit mir in den großen Garten der Familie. Dies war ein riesiges Grundstück direkt am Meer mit unzähligen Dattelpalmen. Ich hatte mich schon damals, als ich noch Touristin war, in dieses Stückchen Paradies verliebt und Sahi bot mir nun an, dass wir dort ein Restaurant errichten könnten.
Es war alles immens verlockend.
›Aber du liebst ihn nicht‹, sprach die Sehnsucht.
›Ich will auch gar nicht mehr zum Vorschein kommen‹, erwiderte die Liebe, ›das ist alles viel zu verletzend für euch alle. Ihr anderen Gefühle habt so gelitten in den letzten Jahren. Ohne meine Fixierung auf einen Mann geht es euch doch viel besser. Ich gebe das ein für alle Mal auf und sehe es als einen Traum, der nur selten im Leben gewährt wird und nun einfach dahin ist. Ich beschränke mich auf die Kinder und das Dasein an sich. Sehe alle die kleinen Schönheiten des Alltags und erfreue mich daran. Mein großer Auftritt war einmal und kommt vielleicht nie wieder.‹
Der Verstand meldete sich ebenfalls zu Wort und alle anderen Gefühle lauschten gebannt seiner Argumentation: ›Ich denke auch, dass dieser Vorschlag eine richtig gute Idee ist. Die Liebe bringt zwar oft wunderschöne, unübertreffliche und bezaubernde Gefühle, aber in unserem Fall während der letzten Jahre mehr Leid als alles andere. Schaut doch, wo diese Liebe sie hingeführt hat. Sie sitzt mit drei kleinen Kindern ohne verfügbaren Vater in einem fremden Land fest, in dem sie keine Arbeitserlaubnis bekommt, wenn sie keine feste Anstellung in Aussicht hat. Nach Deutschland kann sie ohne die nötigen Papiere ihres Mannes auch nicht. Samirs Liebe war längst nicht so allumfassend, wie sie hätte sein sollen. Viel zu viel vom Ego geleitet, anstatt für Frau und Kinder nur das Beste zu wollen. Seine Liebe war von Anfang an zu stark von Macht- und Besitzdenken durchzogen. Zwei Attribute, mit denen wir noch nie wirklich umgehen konnten und die uns einfach viel zu sehr einschränken. Ich denke Sahi wäre genau der Richtige für sie. Er liebt sie von Herzen, das wissen wir alle, und er würde ihr keinen einzigen Wunsch versagen. Auch das wissen wir.‹
›Ja, genau!‹, bestärkte sie der Freiheitsdrang. ›Sahi ist wohl einer der wenigen muslimischen Männer, der uns genügend Freiraum einräumen könnte, damit wir uns hier richtig wohlfühlen können.‹
Der Pragmatismus ergänzte: ›Zumindest würde Sahis Familie gut auf sie aufpassen. Sie hätte wieder ein Haus und auch die Möglichkeit, zu arbeiten.‹
›Ich glaube es kaum‹, sagte der Verstand, ›sollte ich tatsächlich das erste Mal in unserem Dasein als Gewinner über die Liebe und die Sehnsucht aus dieser Diskussion hervorgehen?‹
›Von mir aus‹, erwiderte die Liebe, ›ich gebe auf.‹
Die Sehnsucht wollte zu sprechen ansetzen, aber sie war mit all den anderen Gefühlen tief genug verbunden um zu spüren, dass sie mit ihrem Bestreben nach der großen Liebe allein auf weiter Flur stand. Niemand glaubte mehr an die Erfüllung ihrer Wünsche und hätte sich mit ihr auf eine Seite gestellt.
Sahi kam unterdessen fast täglich bei mir vorbei und ich genoss es sehr, Zeit mit ihm zu verbringen. Ich lernte ihn immer besser kennen, da mein Arabisch mittlerweile richtig gut war. Wir sprachen über alle Themen, die uns auf dem Herzen lagen.
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