Endlich hörte ich, wie zwei von Samirs Brüdern sich verabschiedeten. Jetzt war nur noch Aude, der jüngste Bruder dort. Er war noch ein Jugendlicher und so konnte ich ihn bitten, mich mit seinem Vater alleinzulassen. Ehrfürchtig begrüßte ich den betagten Mann, indem ich ihm meine rechte Hand gab. Mit der anderen Hand drückte ich ihn sachte an der Schulter nach unten, um ihm zu suggerieren, dass er ruhig sitzen bleiben sollte. Normalerweise erheben sich die Beduinen, wenn sie jemanden begrüßen. Doch Samirs Vater hatte schmerzende Gelenke und war sichtlich froh, dass ich ihm suggerierte ruhig sitzen zu bleiben. Ich setzte mich neben ihn auf die am Feuer ausgelegten bunten Teppiche und erzählte ihm von meinem Vorhaben. In einem langen und traurigen Gespräch gab er mir schlussendlich und notgedrungen seinen Segen für meine Entscheidung, auch wenn ihn dies sichtliche Überwindung kostete. Die herbe Enttäuschung über seinen Sohn und die damit verbundenen Umstände machten ihm genauso schwer zu schaffen, wie uns allen. Das konnte man deutlich in seinem verzweifelten Gesichtsausdruck lesen.
Ich war nach diesen zwei Tagen, in denen ich viel Zeit mit der Familie verbracht hatte, unsagbar zornig auf meinen Mann. Denn wieder einmal wurde mir von allen Seiten gespiegelt, wie viel Leid Samir über seine und unsere Familie gebracht hatte. Alle waren verzweifelt und hoffnungslos. Über allen Gesprächen hing eine große dunkle Wolke der Traurigkeit und des Unverständnisses.
Wieder einmal saß ich am Strand und schaute meinen Kindern beim Spielen mit der neuen Schaukel, die ich aufgehängt hatte, zu. Sie lachten herzhaft und ich fragte mich, wann ich endlich wieder so ausgelassen mitlachen würde. Mir war klar, dass ich, solange ich in Samirs Drama gefangen war, mir dies nur selten erlauben würde. Mein Unterbewusstsein schickte mir immer mehr Situationen, die mir sehr deutlich machten, mit der angestrebten Scheidung den richtigen Weg zu gehen.
Samir hatte gerade Halbzeit im Gefängnis, als ich den ersten Pick-up belud, um in meine neue Zukunft umzusiedeln. Noch eineinhalb Jahre hatte ich jetzt Zeit, mir zu überlegen, wie ich es schaffen konnte, dass Samir mir nicht, wie er angekündigt hatte, die Kinder wegnahm. Ich hatte lange nicht mehr meditiert und setzte mich am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang in den groben Kies, schaute auf die Berge von Saudi Arabien und versank mit den Wellenbewegungen des Meeres in eine Vision einer glücklichen Zukunft für uns alle.
Gedanken kamen auf: ›Es findet sich sicher ein Weg‹, versuchte die Zuversicht, mich zu trösten.
›Ganz sicher gibt es eine Lösung‹, untermauerte die Hoffnung und der Glaube sprach ein ruhiges und liebevolles: ›Vertraue!‹
Am Nachmittag kamen zwei meiner europäischen Freundinnen mit ihren Töchtern. Auch sie gaben mir die nötige Unterstützung in meiner Entscheidung.
Als ich gerade die Spielsachen der Kinder unter unserer Arischa zusammenräumte, hielt ich für einen Moment überrascht die Luft an. Ich spürte, dass mich jemand beobachtete.
»Hey!«, ertönte hinter mir eine mir wohlbekannte Stimme.
Ich drehte mich um und sah Sahi auf mich zukommen.
Sahi war der erste Beduine, den ich näher kennengelernt hatte. In meinen Urlauben auf dem Sinai hatte ich immer viel Zeit mit ihm verbracht und er hatte mir beim Kauf meines ersten Kamels geholfen. Ich hatte ihn damals immer meinen kleinen Bruder genannt und großes Vertrauen zu ihm entwickelt. Er war mein bester Freund gewesen bis ich Samir geheiratet hatte.
Meinem Mann war Sahi immer ein Dorn im Auge gewesen. Da es jedes Mal fürchterlichen Streit mit Samir gegeben hatte, wenn Sahi irgendwo aufgetaucht war, hatten wir irgendwann unseren Kontakt gänzlich abgebrochen. Seine Freundschaft hatte mir die letzten Jahre sehr gefehlt.
Ich war unendlich froh, ihn zu sehen. Freudig überrascht sprang ich auf und umarmte ihn stürmisch. Auch ihm war seine Freude, mich zu treffen, deutlich anzusehen.
Ich ging ins Haus und machte uns Kaffee. Schon früher war Sahi einer der wenigen Beduinen gewesen, der auf die Frage: »Tee oder Kaffee«?, immer unüblicherweise »Kaffee« geantwortet hatte. Sahi folgte mir und sofort unterhielten wir uns sehr vertraut über alles, was bei uns die letzten Jahre passiert war.
Irgendwann erzählte ich Sahi auch, dass ich mich von Samir scheiden lassen würde. Seine Freude darüber war ganz deutlich und dies brachte er auch verbal zum Ausdruck. Er vergaß natürlich nicht, zu erwähnen, dass er mich schon damals vor Samir gewarnt hatte. Aber er war andererseits sehr mitfühlend und konnte meine Sorge um meine Kinder durchaus verstehen. Er versprach, sich für mich umzuhören, was ich machen könnte.
Von diesem Tag an schaute Sahi immer mal bei mir rein und ich war froh, endlich wieder eine männliche Person bei den Beduinen zu haben, der ich voll und ganz vertrauen konnte. Sahi war zwar der unzuverlässigste Mensch, den ich je in meinem Leben traf, aber dafür der, zu dem ich bis heute das größte Vertrauen hege, denn wir sind nach wie vor allerbeste Freunde und ich bin mir sicher, dass nichts und niemand das jemals ändern kann.
Noch ein letztes Mal meditierte ich morgens an meinem geliebten Strand und packte nachmittags die letzten Habseligkeiten auf den Wagen. Ich fragte mich erneut, ob ich auch wirklich das Richtige tue. Es tat unbeschreiblich weh, dieses Haus zu verlassen. Solch einen wunderschönen Platz würde ich vielleicht nie wieder besitzen.
Meine Kinder riefen mich und drängten zum Aufbruch. Sie durften hinten auf der Ladefläche mitfahren. Welches Kind liebt das nicht? Sie nahmen es leicht, das war gut. Ich setzte mich mit Soliman neben den Fahrer nach vorn und biss mir auf die Lippen. Erst abends, als die Kinder schliefen, weinte ich bitterlich über den Verlust meines Hauses.
»Am Ende gilt doch nur, was wir getan und gelebt-und nicht, was wir ersehnt haben.«
- Arthur Schnitzler -
Das Haus meiner Bekannten war um einiges kleiner als unser Haus am Strand und ich hatte große Probleme, all unser Hab und Gut dort unterzubringen. Ich erinnerte mich, welch befreiendes Gefühl es gewesen war, als ich noch alles, was ich besaß, auf mein Kamel packen konnte. Aber nun hatte ich Kinder und die brauchten Bücher, Spielzeug und jede Menge anderer Sachen. Fließend Wasser wie in meinem Haus gab es auch keines. Ich merkte von Tag zu Tag mehr, dass ich einen großen Rückschritt gemacht hatte, was meine Wut über meinen Mann nochmals verstärkte. Der einzige Vorteil war, dass ich etwas relaxter mit meinen Kindern war. Denn dieses Anwesen hatte eine hohe und alles einfassende Mauer. Ich musste nicht ständig aufpassen, dass einer meiner Söhne allein ans Meer ging.
Einmal war ich im alten Haus beinahe vor Angst wahnsinnig geworden. Ich hatte mich mit Soliman ins Zimmer gelegt, um ihn zu stillen. Ghanem hatte im Vorhof mit Salama gespielt, der jedoch nach kurzer Zeit zu uns kam und sich neben uns legte. Es war ein sehr heißer Tag und Salama schlief schneller ein als Soliman. Als der Kleinste endlich ebenfalls tief und fest eingeschlummert war, schaute ich nach Ghanem, der mir verdächtig ruhig war. Doch Ghanem war verschwunden. Ich rief nach ihm und suchte ihn überall. Für einen Moment dachte ich, er würde sich einen Scherz mit mir erlauben und sich irgendwo verstecken. Ich rief laut, dass dies kein Spaß mehr sei und er herauskommen solle. Er kam nicht. In der Küche stand die Tür nach draußen einen Spalt offen und ich bekam Panik, dass er sich allein herausgeschlichen hatte. Ich suchte den Strand ab. Aber auch da war er nicht. Gerade kam ein mir bekanntes Beduinenmädchen vorbei. Ich fragte sie, ob sie Ghanem gesehen hätte. Sie verneinte. Ich bat sie, kurz hineinzugehen und auf meine Kinder zu schauen, was sie hilfsbereit und zu meiner Freude sofort tat. Ich lief in den kleinen Supermarkt auf der Straße, aber auch dort hatte man meinen Sohn nicht gesehen. Langsam stieg Panik in mir auf. Ich hatte unglaubliche Angst, dass er ins Meer gegangen war und suchte verzweifelt weiter. Ich fragte alle in meiner näheren Umgebung, aber niemand hatte ihn gesehen. Ich war jetzt schon eine halbe Stunde unterwegs und mittlerweile waren wir ein kleiner Suchtrupp geworden, aber wirklich niemand hatte ihn zu Gesicht bekommen an diesem Tag. Keine Spur von ihm weit und breit. Ich lief wieder runter in mein Haus, um nach meinen anderen Kindern zu sehen. Schon als ich durch die Tür trat, fiel mir der große Teppich auf, der immer zusammengerollt an der Hausmauer lag und nur ausgebreitet wurde, wenn viele Gäste kamen. Er war außergewöhnlich dick. Ich schaute ihn genauer an und entdeckte meinen Sohn Ghanem im Inneren. Seelenruhig schlief er voll und ganz in den Teppich eingerollt. Ich brach weinend zusammen. Unendliche Freude trieb mir Tränen der Erleichterung in die Augen.
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