Heute, am Heiligabend, kam Kathi die Intuition zu Hilfe. Sie wuselte sich durch die Menschenmengen zu Frau Koller hindurch und fragte, ob sie denn nicht helfen könne beim Würstchen ausgeben. Frau Koller fand das sehr aufmerksam und freute sich aufrichtig. Kathi bekam ein Geschirrtuch dreieckig um die schmalen Hüften und die Lockenpracht zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie stand hinter aufgestellten Tischreihen, lächelte charmant und fühlte sich wie eine große Kellnerin. Keine Einsamkeit. Vollends war sie beschäftigt, Würstchen mit einer Zange auf einen Pappteller zu legen, der groß und gebogen auf ihrer kleinen flachen Hand lag. Senfklecks dazu und eine Scheibe Weißbrot. Alle waren hungrig. Alle wollten etwas von ihr. Und sie musste nicht einmal Angst haben, dass es einen Nackenschlag gibt, wenn etwas herunterfiel.
Unter den Tisch hatte sie einen kleinen Hocker geschoben, darauf stellte sie ihren Teller mit Würstchen, bückte sich blitzschnell und biss zwischen Essensausgabe und Lächeln hinein. Sie war sich sicher, dass es keiner bemerkte, schon gar nicht, dass es ein paar Würstchen zu viel waren, bis ihr wirklich übel wurde. Übel, aber glücklich. Das war paradiesisch!
Alle drei fuhren mit der U-Bahn nach Hause. Die Mutter verzichtete das erste Mal und zur Freude der Kinder, auf das Lesen der Weihnachtsgeschichte, da das bereits durch den Pastor in der Petrikirche geschehen war. Ohne angsteinflößenden Weihnachtsmann. Sie durften schon vom bunten Teller naschen, auf den sich die Schwestern seit Tagen freuten. Leider war Kathi immer noch übel. Der Papa kam irgendwann dazu, sie sangen wie immer die Weihnachtslieder, spielten Blockflöte und packten endlich die Geschenke aus. Dabei ging an diesem Heiligabend ein langersehnter Wunsch in Erfüllung: Ein ganzes Stück Käse, ganz für sie allein. Nicht wie sonst, in Scheiben geschnitten, durch die man Zeitung lesen kann, wie der Vater stolz erklärte. Kathi konnte einfach reinbeißen! Wenn ihr doch bloß nicht so schlecht gewesen wäre.
An diesem Heiligabend war die Welt in Ordnung. Glückselig mit einem Glas Glühwein. Den durften die Schwestern, obwohl sie sehr jung waren – verdünnt versteht sich – an Heiligabend trinken. Glückseliger Dusel, einschlafen ohne Einsamkeit, ohne Weinen, ohne Ängste, einfach so. So wie Kathi wie ein Engelchen gesungen hatte, so schlief sie auch ein. Und kein Mensch hätte in diesem Moment glauben können, dass sie draußen auf dem Hof oder im „Schulkindergarten“ ziemlich heftig die Jungs verprügelte.
TROTZ UND MISSTRAUEN 1967
„Kathilein, komm doch mal bitte her, ich muss mit dir sprechen.“ Wenn die Mutter in diesem freundlichen Ton sie mit dem Spitznamen ansprach, dann war etwas im Busch. Aber was? Was wollte sie? Kathi ging langsam, zögerlich, wie eine geprügelte Katze auf die Mutter zu. „Komm, setz dich mal auf meinen Schoß.“ Sie strich dabei Kathi über die Wange. „Was ich dir jetzt sage, darf dich nicht erschrecken, ich weiß, dass wir dir etwas versprochen haben. Bisher konnten wir dich bei Oma, Tante Ruth oder Tante Gertrud unterbringen, wenn Papa und ich allein sein wollten, aber nun ist es etwas Anderes.“
Kathi wurde flau im Magen. Die Aufenthalte bei Oma und den Tanten waren fremd, aber schön. Lieb, genug Essen, keine Schläge, kein Papa, der sich abends neben sie legte, obwohl sie seine Arme und den Schutz durchaus vermisste. Auch war sie inzwischen mal wieder im Krankenhaus mit einer Nebenhöhlenentzündung und Bronchitis gewesen.
Zehn Tage. Rotlicht im Gesicht, Inhalieren, schönes Bett, tolle Zimmerkameradinnen, nette Schwestern. Kathi fing an, aus sich herauszukommen, wenn sie sich einigermaßen sicher und gemocht fühlte. Manche fanden sie dann schon etwas frech. Aber so war sie eben. Das war der Übermut, die Freude über dieses doch seltene Glück, sich angenommen zu fühlen.
Und nun saß sie auf Mamas Schoß, die ihre Wange tätschelte und ihr verkündete, dass sie doch wieder verschickt werden müsse. Mit ihrer Bronchitis, was sich zum Asthma auswuchs, sollte sie wieder an die Nordsee. Dieses Mal nach Westerland zur Kur.
„Mama, nein, bitte nein! Du hast es versprochen!“ Für Kathi brach eine Welt zusammen. Die Angst, ihr Zuhause zu verlieren, all das, was sie auf der ersten Verschickung erlebt hatte, war wieder lebendig. Es rauschte in ihrem Kopf, sie schluchzte und der Mama brach es fast das Herz, denn das tat ihr wirklich leid. Aber warum das wirklich sein musste, das war für Kathi nicht zu verstehen.
Es ging alles sehr schnell. Zwei Tage später wurde Kathi in den Zug gesetzt mit einer Betreuerin und einigen anderen Kindern und dann ging es los.
„Ich schlucke meine Tränen runter. Ich zeige nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Kathi dachte vollkommen diffus. Auch verstand sie nicht, warum Britta und sie immer getrennt wurden. Nie konnten sie zusammen irgendwo sein, wo Britta doch ihr ein wenig Vertrautes, ein wenig Halt gab.
Angekommen, kam Kathi in ein Zimmer mit sechs Betten. Sie fühlte sich einsam und wollte einfach nur nach Hause. Heimweh war für sie ein schreckliches und schmerzhaftes Gefühl.
Morgens gab es Suppe. Suppe die nach Vanille oder Schoko schmeckte. Das war sooo lecker und großartig. Das Essen war toll. Auch die dicke Köchin, zu der sie gern durch den Hintereingang von außen ein paar Stufen herunterlief, war mütterlich und nett, gab ihr einfach mal ein paar Naschereien. Sie erinnerte sie an Frau Star, zu der sie schon länger nicht mehr gegangen war.
Es folgten Inhalationen, Turnen, Strandspaziergänge. Eine schöne große alte Villa, fast wie ein Schloss, mit Innenhof in dem es Saft aus Plastikbehältern an den Wänden gab. Oder kaltem Tee. Und ein paar Stufen herunter zum Meer. Kathi hatte nichts auszustehen. Aber in ihr wuchs ein unbändiger Trotz, gegen alles. Gegen die Mutter, den Vater, gegen die Welt. Für sie war es Verrat. Richtiger Verrat!
Sie hatte noch nie etwas verraten. Nicht, woher die Blessuren an ihrem Körper kamen, nicht die Hungerbestrafungen, nicht das stundenlange in der Ecke Stehen, ohne den Kopf zu drehen. Oder dabei in die Hocke gehen zu dürfen, oder auch nur ein Wort zu sprechen.
Verrat. Verrat. Verrat.
Kathi trat ohne Vorwarnung dem einen oder anderen Jungen gegen das Schienbein. Schon war sie in Raufereien verwickelt. Heftigst. Mit Fäusten bearbeitete sie ihr jeweiliges Opfer, bis eine Betreuerin sie auseinanderriss.
„Katharina, was ist denn in dich gefahren?“
Wenn sie das nur wüsste. Nur unbändige Wut und Verzweiflung spürte sie.
Aber sie merkte, dass es ihr guttat. Dampf, der irgendwie raus musste. Sie zog den Stuhl unterm Hintern weg, wenn sich ein Kind hinsetzen wollte, schlug mit dem Suppenlöffel auf den Kopf von irgendwem. Dass das nicht ohne Folgen blieb, hätte sie mit ihren sechs Jahren ahnen können.
Kathi musste zum Direktor des Hauses. Er fragte, was denn in sie gefahren sei und Kathi erwiderte nur immer wieder, dass sie nach Hause möchte.
„Wenn du dich weiterhin so aufführst und dich nicht sofort anständig benimmst, wirst du nach Hause geschickt, und zwar sofort!“ War das die Antwort, die sie hören wollte? Das kam überraschend.
Gut. Das war in Ordnung. Sie ging wortlos zur Tür, drehte sich um und spuckte, so wie sie es bei den Jungs schon häufiger gesehen und auch heimlich beim Weitrotzen geübt hatte, in Richtung des Direktors. War aber nicht weit genug.
Er war fassungslos. Ein so zauberhaftes Mädchen, das sich so verhielt? Was war da bloß schiefgelaufen? Kathi wurde ins Bett geschickt.
Frühstück aß sie wieder richtig gerne. Kathi hatte schon von einer Betreuerin gehört, dass Sachenpacken angesagt wäre, da die Mutter auf dem Weg sei, um sie abzuholen.
Juchhu, das Herz jauchzte in ihr! Kathi war glücklich.
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